Am Rande des Abgrunds: Thriller (German Edition)
daran, wie ihr der Alkohol und die Aufregung zu Kopf gestiegen waren, während sie Dan über die große Speisenkarte hinweg beäugte und ihr Bauchgefühl ihr sagte, dass es an diesem Abend geschehen würde, und wie sie sich schon die Telefonate ausmalte, die sie anschließend führen würde; ihre Fingernägel perfekt lackiert, ihr Ringfinger noch nackt und kahl.
Jetzt blinzelte Charlotte, als sähe sie sich damals in jener frostigen Dezembernacht aus dem Restaurant tänzeln, an ihrer Hand der funkelnde Edelstein. Sie hatte ein enges rotes Kleid getragen, eine Hervé-Léger-Kopie von Reiss, und hatte dementsprechend kaum ihren Schokoladenpudding essen können. Doch in den dunklen Schaufenstern sah sie, wer sie jetzt war: eine blasse junge Frau mit herauswachsendem Haaransatz in einem Schlabberpulli. Denn wozu sich jetzt noch aufbrezeln? Was sollte das noch?
Charlotte schüttelte den Kopf, um das Gespenst jener lachenden, gepflegten Frau zu verscheuchen, die von Liebe umfangen war. Diese Frau war fort, auf Nimmerwiedersehen.
Als sie sich ihrem Haus näherte, musste sie wieder an die Jugendlichen denken, die davorgestanden hatten, und verkrampfte sich vor Furcht. Aber Keisha war ja da. Die würde ihnen schon Beine machen. Sie ging weiter und verspürte große Erleichterung darüber, dass diese seltsame junge Frau gekommen war, um ihr zu helfen.
Keisha
Die Kinder, die aus der Schule strömten, kriegten nicht viel mit. Es war drei Uhr nachmittags, und sie hatten jetzt Schulschluss und wollten nur noch in den Süßigkeitenladen oder vor die Glotze. Keisha, die sich auf der anderen Straßenseite in die Büsche drückte, bemerkten sie auf keinen Fall. Sie kämpfte gegen ihre Nervosität an. Aber schließlich hatte sie das Recht, hier zu sein, oder etwa nicht? Ihr Blick huschte hin und her. Hier würde er nicht auftauchen. Natürlich nicht. Er wusste wahrscheinlich nicht mal, auf welche Schule seine Tochter ging. Nein, hier musste sie sich nicht vor ihm fürchten.
Die meisten Kinder waren inzwischen draußen, ein ganzer Strom von ihnen, in roten Pullovern, und sie machten einen Lärm wie die Vögel, wenn man ganz früh wach wurde und alles andere noch still war. Keisha hörte das oft, wenn sie vom Pflegeheim nach Hause ging, dieses Geschnatter, das nichts zu bedeuten hatte. Jedes Mal, wenn ein kleines Mädchen mit schwarzem Haar vorüberging, hüpfte Keishas Herz wie ein Frosch. Nein, das war sie auch nicht, die war zu groß. O Mann, es gab aber echt viele schwarze Mädchen an dieser Schule. Nicht dass Ruby richtig schwarz gewesen wäre. Das war ja das Problem.
Und dann, gerade als sie angefangen hatte, ungeduldig mit dem Fuß zu klopfen, tauchte Ruby auf, die Brille schief auf der Nase. Die war mit Klebeband repariert – was war da passiert? Wieso gingen sie nicht mit ihr zum Optiker, verdammt noch mal? Das Haar trug sie zu Cornrows geflochten, was sie bei Keisha nie getan hatte, weil Keisha nicht wusste, wie man so was machte. Ruby ging Hand in Hand mit einem größeren Mädchen, einer Schwarzen mit Zöpfchen im Haar, und ein gutes Stück von Keisha entfernt überquerten sie gemeinsam die Straße. Da wartete schon eine Frau auf sie: jung, schlank, ein hübsches buntes Tuch ums Haar gebunden. Natürlich eine Schwarze. War das die Pflegemutter? Nein, dafür war sie zu jung. Wer waren diese Leute, die Ruby mit zu sich nach Hause nahmen?
Dann gingen sie an ihr vorbei, und Keisha drückte sich noch tiefer in die Büsche. So doof es auch war, Ruby so nah zu sein und nicht mit ihr zu reden, wäre es doch noch viel blöder, wenn die Kleine mitkriegen würde, dass sie da war. Das wäre echt nicht fair ihr gegenüber. Als sie Keisha am nächsten kamen, waren sie nur ein paar Meter entfernt, und Keisha sah, wie die Frau stehen blieb und Rubys Ranzen richtig zumachte. Dann wackelte Ruby weiter die Straße hinab, der Ranzen fast so groß wie sie. Keisha fragte sich, ob sie wohl schon anders roch, nach einem fremden Haushalt, nicht mehr nach ihrem.
Als die beiden Mädchen und die Frau an der nächsten Ecke angelangt waren, kam Keisha aus den feuchten Büschen hervor, sah sich zwei-, dreimal um und ging dann in entgegengesetzter Richtung davon.
Es war schon sehr seltsam, wie sich die Dinge entwickelt hatten. Ihre Mutter hätte gesagt, die Wege des Herrn seien unergründlich – oder irgend so einen Stuss. Als Keisha das erste Mal zu Charlotte gegangen war, war das eine dieser Aktionen gewesen, die man brachte, ohne groß
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