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Am Rande wohnen die Wilden

Am Rande wohnen die Wilden

Titel: Am Rande wohnen die Wilden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Frühauf
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der bekanntesten Piloten der amerikanischen nachkapitalistischen Raumflotte zu jener Zeit, einer von den Leuten, die in ihrem Beruf nur dann Chancen hatten, wenn ihre körperliche Konstitution weit über dem Normalmaß lag. Der Ausbildung nach Fallschirmspringer, hatte er sich irgendwann zur Raumfahrt gemeldet, war angenommen worden und hatte sich zäh und ausdauernd eine Spitzenposition erarbeitet. Nie hatte er viel Zeit für eine fundierte theoretische Bildung aufgebracht, und schließlich hatte er sich selbst eingestehen müssen, daß ihm der durchtrainierte Körper allein nichts mehr nützte. Die Zeit, da ihn der wissenschaftlichtechnische Fortschritt zu überrollen drohte, war nicht mehr allzu fern. Aber Lester war nicht der Mann, sich ohne Widerstand überrollen zu lassen. Kurz entschlossen schrieb er sich an der Universität im alten Berlin als Student der Organisationswissenschaft ein. 
    Karin erinnerte sich gern an die bewundernden Blicke ihrer Kommilitoninnen, wenn Lester sie nach den Vorlesungen von der Uni abholte oder wenn sie ihnen abends in der Stadt begegneten. Lester war groß und schlank, sein Haar begann sich an den Schläfen bereits damals grau zu färben, und seine Bewegungen waren geschmeidig und kraftvoll. Nie verleugnete er, daß er alles tat, um seinen Körper auf dem Höhepunkt seiner Leistungsfähigkeit zu halten. Vielleicht hatte er sogar in seiner Studentenzeit mehr trainiert als während seiner aktiven Pilotenlaufbahn.
    Damals hatten sie jede freie Minute gemeinsam verbracht, zumal ihre privaten Interessen fast völlig auf denselben Gebieten lagen. Sie bevorzugten vor allem Theater und Musik, und hier hatte das alte Berlin zweifellos einiges zu bieten.
    Es war wie ein Rausch. Lester erwies sich als unerschöpflicher Organisator, immer wieder machte er neue Vorschläge, fand kleine Bühnen und Laienspielhäuser, von deren Existenz Karin bisher keine Ahnung gehabt hatte. Und sie ließ sich treiben, sonnte sich in seiner Fürsorge und in der Bewunderung ihrer Freundinnen. Wenn sie das alles heute nüchtern zu überdenken suchte, so kam sie zu dem Schluß, daß das Erwachen einfach unausbleiblich gewesen war. Zum erstenmal in ihrem Leben war sie damals auf dem Standpunkt geblieben, den sie sich erarbeitet hatte, und dem war unausweichlich ihre Trennung von Lester gefolgt.
    Sie beendeten ihr Studium fast zur selben Zeit. Lester wurde an das astronautische Institut des amerikanischen Subregionalrates berufen, und Karin sollte in den nächsten Tagen ihre Arbeit in der Forschungsabteilung des Reg-Rates in Leningrad antreten.
    Sie waren hinausgefahren in das blühende Umland von Berlin, die Berufungsurkunden brannten ihnen wie Feuer in der Tasche, aber keiner wagte dem anderen mitzuteilen, daß sie sich entweder trennen mußten oder daß einer von ihnen sich dem anderen in der Wahl des künftigen Wirkungskreises unterzuordnen hatte.
    Vielleicht wäre Karin damals bereit gewesen, Lester nach Amerika zu folgen, sich dort eine andere Existenz aufzubauen, als es die Dispatcher der Uni vorgesehen hatten, um in Lesters Nähe zu bleiben, aber sie hatte wohl gehofft, sich mit ihm darüber unterhalten zu können. Vielleicht wollte sie sich auch um diesen gewiß nicht leichten Schritt bitten lassen.
    Es kam alles ganz anders. Als sie spät am Abend in einem der kleinen Restaurants am Stadtrand vor einer Flasche Wein saßen, legte Lester seine Urkunde auf den Tisch und schilderte lachend, wie sie beide zusammen im Subregionalrat Amerikas arbeiten würden, wie sie sich ergänzen würden und welch schönes und ausgefülltes Leben sie erwarte. Mit keinem Wort ging er auf die Möglichkeit ein, zusammen mit ihr in Leningrad zu arbeiten. Und Karin verschloß sich innerhalb weniger Minuten seinem Drängen, verschloß sich um so mehr, je drängender seine Argumentation wurde.
    Schließlich hatte es eine kurze, aber erregte Auseinandersetzung gegeben, in der sie erkennen mußten, daß sie sich schon viel zu sehr in ihre eigenen Gedanken verrannt hatten, um noch nachgeben zu können. Noch am selben Abend hatten sie sich getrennt, obwohl sie wußten, daß es ihnen sehr schwer werden würde.
    Aus den Augen hatten sie sich nicht verloren. Immer wieder brachte ihre Arbeit Anknüpfungspunkte, gab ihnen Gelegenheit, sich bei Telefonaten und Arbeitsbesprechungen zu sehen und auszutauschen. Von gemeinsamem Leben jedoch hatten sie nie wieder gesprochen. Es war wie ein Tabu, war, als empfänden sie Angst, sich weiter zu

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