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Am Schwarzen Berg

Am Schwarzen Berg

Titel: Am Schwarzen Berg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Katharina Hahn
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geraten, hatte ihn förmlich ins Haus gekeift, unter die Dusche gezwungen, wo er nackt und triefend stand, während sie die Blutklumpen mit warmem Wasser aufweichte, ihren ganzen Mann überschwemmte. Der alte leckende Duschkopf spie Ströme über seine gebeugten Schultern, das von der Feuchtigkeit glattgepreßte Brusthaar, den traurig zusammengezogenen Penis, bis die rosigen Ränder der Wunde freigelegt waren, so tief, daß man eine Erbse hätte hineindrücken können. Zitternd hatte sie das gräßliche Loch in Betaisodona ertränkt und mit Leukoplast verklebt, selbst naß bis auf die Unterwäsche. Ihre Füße, gepudert vom Staub eines Arbeitstages, hinterließen schwarze Abdrücke in der Duschwanne. Seit Peters Ankunft waren sie beide nicht mehr dieselben. Sie fühlte sich auf ähnliche Weise aus der Bahn geworfen wie damals, als Emils Weinsteiger-Zeit ihr plötzliches Ende fand. Peter war damals in den USA gewesen, und weder Emil noch Veronika hatten ihm je davon erzählt.
    Nach einem langen Nachmittag in der ›Schlange‹ war Emil bei der Betrachtung des Wandgemäldes auf die Idee gekommen, er müsse unbedingt mit dem alten Hermann Lenz sprechen. Er schrieb ihm mehrere Briefe, die er Veronika nicht zeigen wollte. Natürlich ging es um Mörike. Eine Antwort bekam er nie. Schließlich nutzte er die brütendheißen Pfingstferien, um nach München zu fahren. Er stieg in einer schäbigen Pension in der Karl-Witthalm-Straße ab, wo er sich morgens Vesperbrote schmierte, um dann den ganzen Tag vor dem Haus des Schriftstellers herumzulungern. Er schämte sich zutiefst und trank von früh bis spät Wein aus dem Tetra Pak, brachte es aber nicht fertig, seinen Posten auf der Gartenmauer der Mannheimer Straße 5 zu verlassen. Am Telefon berichtete er Veronika von den streng geschlossenen weißen Vorhängen vor Lenz’ Fenstern und einer Vase mit Erdbeermuster davor auf dem Sims, die er so lange anstarrte, bis er meinte, den Duft der Früchte durch die Scheiben zu riechen. Nachbarn holten schließlich die Polizei, die Emil freundlich, aber bestimmt davonscheuchte. »Der Herr Lenz ist im Urlaub, den könnten Sie jetzt ohnehin nicht sprechen.«
    Nach dem Münchenausflug verbrachte Emil mehrere Nächte im Schloßgarten; er begründete dies später damit, daß er nach dem Ausstieg aus dem Zug den Weg zur Straßenbahn »einfach nicht mehr gefunden habe«. Er schlief auf einer Bank am Theatersee, die ihm zunächst von zwei Obdachlosen streitig gemacht wurde. Emil beschrieb die beiden als »einen Riesenkerl mit Bart und Stock und einen flauschhaarigen Hänfling, der stumm zu sein schien«.
    Wie Emil später zugab, hatten sie ihm nach und nach die ganze Weinsteiger-Geschichte entlockt und ihm tröstend versichert, den Anhang mit dem unbekannten Mörike habe noch keiner gelesen. Veronika fand Emil schließlich. Schweigend hatten sie vor den im Morgenlicht glühenden Rosenbeeten gesessen, die weißen Leiber der Statuen im Rücken, den dunstigen Umriß des Großen Hauses vor sich. Unter einem Windhauch zwinkerte das Auge des Theatersees, besetzt mit schlafenden Enten. Veronika war ein wenig von Emil abgerückt, hatte aber zugelassen, daß er seinen verschwitzten Kopf an ihre Schulter lehnte. Das Programm des Internationalen Germanistenkongresses in der Stuttgarter Liederhalle drückte sie ihm erst im Auto in die Hand. »Carl Fridolin Weinsteigers Mörike-Biographie. Schizophrenie als literarische Identität«. Von Prof. Dr. med. Zacharias Busner, Eichstätt, und Prof. Dr. Peter Fox, Berlin. Veronika hatte Emil zum Besuch dieses Vortrags gezwungen.
    »Morgen gehst du hin, damit der Unfug ein für allemal aufhört. Otto holt dich ab. Er bleibt auch bei dir, damit du von Anfang bis Ende zuhörst.«
    Otto Bohnenberger hatte Emil am Eingang der Liederhalle in Empfang genommen. » Bonjour, mon chèr! Sektion B trifft sich im Mozartsaal. Der Vortrag wird sicher interessant. Es ist eine Seltenheit, daß fachfremde Gelehrte zusammenarbeiten.« Der Koloß wich nicht von Emils Seite, nickte ihm ab und an aufmunternd zu und dünstete einen leichten Knoblauchgeruch aus. Emil mokierte sich Veronika gegenüber darüber, daß er während des gesamten Vortrags ungeniert in einem Band der ›L’ Année balzacienne‹ las, dessen Ränder er mit struppigen Bleistiftnotizen bedeckte.
    Der Saal war von tuschelnden, mit Papier raschelnden Germanisten aus aller Welt besetzt. Busner und Fox traten aufs Podium, um sich gegenseitig mit Girlanden von

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