Am Schwarzen Berg
Höflichkeitsfloskeln vorzustellen. Emil erfuhr, daß die beiden wie er am Karlsgymnasium Abitur gemacht hatten und, obwohl ihre Wege sich berufsbedingt trennten, »stets Castor und Polux geblieben waren«. Busner, der Mediziner, begann: Carl Fridolin Weinsteiger war im Alter von 23 Jahren nach einer unglücklichen Beziehung zusammengebrochen. Da er zu gewalttätigen Ausbrüchen neigte, wurde er entmündigt und unter Kuratell gestellt. Mit einem Brotmesser in der Hand war er ins Studierzimmer seines Vaters eingedrungen, wo er sämtliche Bücher außer den Werken Mörikes zerschnitten hatte. Wenig später begann sein Verkleidungsdrang. Seine vermögende Familie unterstützte ihn darin, »da ihn das Verpuppen und Larventragen ruhig und frohen Gemüts machte«. Weinsteiger hielt sich gerne im Garten, vorzugsweise in einer mit Geißblatt bewachsenen Laube auf. Ein Jahr danach begann er mit dem Mörike-Band, den seine Familie erst Jahre nach seinem Tod in einer Auflage von 100 Exemplaren bei einem befreundeten Verleger drucken ließ. Um den jungen Mann vor der schrecklichen Atmosphäre eines Irrenhauses zu schützen, wurde er bei einem Stuttgarter Apotheker untergebracht, der jahrelang eine Chronik über das Verhalten des Kranken anfertigte und seine Ergebnisse als Festschrift zur 78. Versammlung des Deutschen Vereins für öffentliche Gesundheitspflege in Stuttgart publizierte.
Busner wertete diese Aufzeichnungen und Weinsteigers eigene Schriften aus. Er deutete sie als Musterbeispiel für die Ausbildung einer Schizophrenie und hob die fortschrittliche Behandlung der Krankheit im Kontext der damaligen Zeit hervor: private Pflege, Eingehen auf die Wünsche des Kranken, schöpferische Betätigung. Der Arzt pries die Seltenheit eines so lückenlos dokumentierten Falles und zog Parallelen zu Hölderlin. Besondere Aufmerksamkeit widmete er dem furchtbaren Ende Weinsteigers. Der Kranke verbrannte in seinem Bett, »weil er nicht davon ablassen konnte, selbst die Nächte rauchend und schreibend in den Kissen zu verbringen«. Dabei stieß er, »vermutlich benebelt durch Bromtabletten und den regelmäßig zur Stärkung eingegebenen Süßwein«, die Lampe um. Was der Literaturwissenschaftler Fox über den wahnsinnigen Mörike-Biografen als Beispiel für »sich rar machende Dichter und verschollene Werke«, den Reiz des großen Unbekannten in der Literatur, Traven, Pynchon, Salinger, Shakespeare und Kaspar Hauser, zu sagen hatte, entging Emil nahezu vollständig. Als Busner den letzten Eintrag der Akte Weinsteiger vorlas, war es um Emil geschehen. Er riß sein Hemd aus dem Hosenbund und verbarg sein Gesicht in dem hochgeschürzten Stoff. Bohnenberger führte ihn hinaus, und Emil schämte sich nicht, an der Schulter des Frankfurters in Tränen auszubrechen. Der Herausgeber der historisch-kritischen Mörike-Ausgabe half Otto, Emil unter tröstenden Worten in dessen Auto zu schaffen: »Nehmen Sie es nicht so schwer. Es ist eine faszinierende Geschichte, aber es gibt keinen einzigen Beweis. Selbst das Foto von Maria vor der Bäckerei hat er nachgestellt, mit den Bediensteten seiner Eltern.«
Am Schwarzen Berg behandelte Veronika Otto mit großer Kälte, worauf sich der Dicke knapp verbeugte und ging. Emil wurde von seiner Frau bekocht und bewacht. Sie hatte Dalmadorm besorgt und saß dauernd an seinem Bett. Der chemisch begünstigte Schlaf war erholsam. Trotzdem erzählte Emil Veronika später seine längst bekannten Träume: von der schrecklichen nackten Maus im Inlet, den Flügeln, die aus seiner Rückenhaut brachen. Veronika entschied sich in diesen Tagen für eine neue Frisur. Als Emil zum ersten Mal wieder aufstand, trug sie schwarze Stacheln, und er sprach über eine Woche nicht mit ihr.
Veronika stand vor Peters Haustür, las die Schilder an der Klingelanlage: Müller / Rau, Steidle, im dritten Stock eine noch nie gesehene Frau Stern. Steidle, ja natürlich, so hießen die Autoschrauber! Veronika griff unter die Fußmatte. Eine Assel, silbergrau und zartfüßig, krabbelte ihr entgegen. Der Schlüssel lag an seinem Platz. Im Treppenhaus roch es nach Essig. Ein staubiger Ährenstrauß stand in einer Kupferkanne neben den Briefkästen. Der mittlere quoll über von Werbeprospekten. Vor Peters Wohnungstür lag das Kehrwochenschild auf der Fußmatte. Die brüchige Paketschnur, an der es von der Klinke gebaumelt hatte, kringelte sich über den mahnenden Worten. Veronika setzte einen Fuß auf den handbeschriebenen Pappdeckel und
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