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Am Schwarzen Berg

Am Schwarzen Berg

Titel: Am Schwarzen Berg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Katharina Hahn
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zu erheben, und landeten flatternd im Gezweig einer Eberesche. Die schweren orangegelben Beerendolden schaukelten unter dem Gewicht der Vögel. Im Parterre waren alle Rolläden heruntergelassen. Veronika stutzte, denn sie sah die kleine Terrasse nicht, auf die man aus dem Wohnzimmer hinaustreten konnte. Im Sommer ist das unser viertes Zimmer, hatte Peter gesagt. Vor den verrammelten Fenstern stand neben einem Holztisch ein Klappstuhl, drei andere lagen umgekippt im Gras. Veronika trat näher und stellte die Stühle wieder auf. Erst jetzt merkte sie, daß sie über Steinboden ging. Quecke, Schnurgras und Vogelmiere sprossen aus den Ritzen. Von weitem erkannte man nur das Grün. Veronika riß ein paar Halme aus. Sie ließen sich leicht herausziehen. Im weichen Wurzelgeflecht hingen Sand und Steinchen, die über ihr Kleid rieselten. Sie prüfte die Sitzfläche eines Stuhls mit der Hand, ließ sich vorsichtig darauf nieder. Das Beet rings um die Terrasse war verwildert. Die Rosen trugen dicke Hagebutten, der Mohn hatte alle Blütenblätter abgeworfen und zeigte bräunlich vertrocknete Kapseln. Veronika brach einen der haarigen Stengel ab. Er war zäh, sie rupfte und zog, klebriger Saft trat aus. Die Samenkörner rasselten im Inneren der Kapsel. Sie streute sich ein paar davon in die hohle Hand, kostete ihren teerigen Geschmack. Sie überlegte, ein paar Mohnkapseln für Peter einzustecken. Er hatte gerne mit ihnen gespielt, von den Körnchen genascht. Aber das waren die Heilmittel einer Vergangenheit, die nur sie bewahrt hatte. Peter hatte sie wahrscheinlich vergessen.
    Jetzt mußte sie hineingehen. Genauso mutig sein wie Carla. Die hatte ihr Kind nach Hause geholt, gemerkt, daß da irgendwas faul war, sich nicht täuschen lassen. Komm nur, trau dich rein und schau, ob du hier Rettung für dein Peterle findest, das jetzt eine Halbleiche ist, in die man alles hineinschütten darf, Suppen und Antidepressiva und Gedichte! Keiner kann helfen, nicht der olle Emil mit seinem Vorlesetick, nicht die kochende Carla. Nicht der Herr Doktor, der jetzt ein Rezept ausgestellt hat. Warum bist du nicht früher gekommen? Aus Angst, aufdringlich zu sein, aus Angst, ihn zu verlieren. Das Stehen auf den hohen Absätzen strengte Veronika an. Sie kniff sich in den Oberarm. Jetzt reiß dich zusammen, du bist doch schon oft genug hiergewesen!
    Vielleicht war es doch zu selten, aber Peters schöner, dunkler Mia, mit der das Gespräch stets ins Stocken geriet, waren zwei Schwiegereltern-Paare kaum zuzumuten. Auch Carla war nicht immer begeistert von der Anwesenheit der Bubs. Veronika hatte noch ihre Stimme im Ohr: »Sie müssen ja nicht dauernd dabeisein, schließlich ist das ein Familienfest.« Peter hatte sie immer eingeladen. Trotzdem machten sie es kurz. Ein Glas im Stehen, ein Stück Kuchen auf die Hand, unverhältnismäßige Geschenke für Ivo und Jörn, Peters Umarmungen, sein Lachen: »Ihr seid so hektisch, bleibt doch noch!«
    Seufzend erhob sie sich und stieg über die Treppe zur Wiese hinunter. Moosplatten, filzig und silbergrün, überdeckten die Stufen. Sie stakste durch das Gras auf den Zaun zu, der überwachsen war von Efeu und den cremeweißen Kelchen der Ackerwinde. Die kleinen Steinhügel reihten sich im Schatten aneinander. Jeder trug ein Holzschild mit sorgfältig eingeritzten Buchstaben: großer Papa-Wels, Keili, Babywels. Auf allen Gräbern lagen vertrocknete Sträußchen: Storchenschnabel, Hahnenfuß und Ackerwitwenblume. Eine Ameise krabbelte über Veronikas Zehen. Sie wischte sie weg und sah im Bücken, daß der Fischfriedhof von schwarzen Ameisen wimmelte. Sie verschwanden in den Ritzen der Grabmäler und in winzigen Löchern, die sich im Gelbgrau des Sandes auftaten. Ein ganzer Trupp war damit beschäftigt, eine tote Grille mit sich zu ziehen. Veronika wandte sich ab. Sie wollte nicht sehen, wie diese Unermüdlichen den zartflügeligen Fiedler unter die Erde schafften, wo er in ihren ungeheuren Speisekammern verschwinden würde, bis die blinden Larven ihn zerkauten.
    Erneut ging sie um das Haus herum. Diesmal von der rechten Seite, so vermied sie die Nachbarn. Sie dachte an Emil. Gerne hätte sie sich bei ihm eingehängt, vorsichtig, damit sie die Wunde an seinem Arm nicht quetschte. Er hatte sie erschreckt, wie er am Abend von Peters Rückkehr auf der Terrasse saß, umstellt von einer Schar Weinflaschen und den braunverkrusteten Arm vor sich auf der Tischplatte wie einen mißlungenen Braten. Sie war völlig außer sich

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