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Am Sonntag blieb der Rabbi weg

Am Sonntag blieb der Rabbi weg

Titel: Am Sonntag blieb der Rabbi weg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Kemelman
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Rednerpult. «Guten Abend, liebe Gemeinde; hier spricht der nette Rabbi Brennerman.» Belustigung im Saal. Er fuhr fort: «Spaß beiseite; ich habe schon oft öffentlich gesprochen, aber das ist das erste Mal, dass ich eine Predigt halten soll – und ich kann Ihnen versichern, das ernüchtert ganz ungemein!» Wiederum ein verständnisinniges Kichern; es war allgemein bekannt, dass Brennerman einen guten Tropfen nicht verachtete. «Als ich erfuhr, dass ich predigen sollte, bat ich unseren Rabbi, mir sein Predigtbuch zu borgen (Gelächter). Doch er behauptet, er hat keines; er schreibt seine Predigten selber – und ich dachte gleich, jetzt weiß ich endlich, was ich ihm zum nächsten Geburtstag schenken kann … (Gelächter) Verstehen Sie mich nicht falsch: Niemand hat vor unserem Rabbi mehr Respekt als ich. Er ist einer der klügsten Männer, die mir je begegnet sind. Das hat er heute wieder bewiesen, indem er diesen Abend schwänzt … (Gelächter)
    Unser Rabbi konnte mir also nicht helfen. So beschloss ich, den Dienstweg nicht einzuhalten und gleich seinen Boss zu konsultieren; ich holte die alte Familienbibel hervor und sah nach, was unser guter Moses zu sagen hat. Ich las den englischen Text, weil ich meine hebräische Brille gerade verlegt hatte … (Gelächter) Ich muss euch sagen, es war für mich eine Offenbarung. Und das soll kein Kalauer sein … Wir alle kennen die Geschichte vom Auszug aus Ägypten, von den zehn Plagen und so weiter. Wenn man die Bibel liest, wird einem aber erst klar, was für Armleuchter diese Ägypter waren mitsamt ihrem Pharao … Allerdings hat sich daran in den letzten 3000 Jahren offenbar nicht viel geändert – höchstens, dass sie uns heute loswerden wollen, und damals wollten sie uns nicht weglassen … Schrecklich unentschlossen, die Leute (Gelächter).
    Beim Weiterlesen merkte ich jedoch, dass unsere eigenen Leute nicht viel besser waren. Stellt euch vor: Gott hatte ihnen seine Macht bewiesen – die großartigste Demonstration, die je der Menschheit zuteil geworden war. Er hatte immer wieder gezeigt, dass er den Kindern Israels wohlgesinnt war. Er hatte das Land der Pharaonen von Heuschrecken und Ungeziefer heimsuchen lassen, von Finsternis und Tod, und die Israeliten waren jedes Mal heil davongekommen. Brauchten sie noch mehr Beweise? Nein. Aber dennoch gab er sie ihnen: Er trennte die Wasser des Roten Meeres, damit sie trockenen Fußes hindurchschreiten konnten. Und was taten die Israeliten? Folgten sie endlich ihrem Führer Moses? Keine Spur. Sobald sie merkten, dass ihnen die Ägypter auf den Fersen waren, begannen sie Moses anzuöden: ‹Hast du uns in die Wüste hinausgeführt, weil es in Ägypten nicht genug Gräber gibt?› Und ihren Brüdern warfen sie vor: ‹Haben wir euch nicht immer gepredigt, in Ägypten zu bleiben und den Ägyptern zu dienen? Immer noch besser, als in der Wüste zu verdursten!› Nun, wir wissen, was Gott darauf geantwortet hat. Als die Ägypter ankamen, ließ er die Wellen zusammenschlagen, sodass alle ertranken.
    Aber das Jammern und Wehklagen nahm immer noch kein Ende. Wenn nicht gerade alles wie am Schnürchen klappte, begannen die Miesmacher zu meutern: In Marah, als das Quellwasser bitter war; dann wieder, als das Essen knapp wurde und sie sich nach den Fleischtöpfen Ägyptens zurücksehnten … Gott schickte Manna. Aber später, als sie kein Wasser mehr hatten, glaubten sie, Gott werde sie verdursten lassen … Moses schlug mit seinem Stab auf den Felsen, und Wasser quoll heraus. Als aber Moses bald darauf auf den Berg Sinai stieg, um die Gesetzestafeln in Empfang zu nehmen, da glaubten sie gleich, es müsse etwas schief gegangen sein, als er nicht sofort zurückkam, und sie zwangen Aaron, das Goldene Kalb zu machen …»
    Brennerman sprach nun sehr ernst, und die Gemeinde hörte aufmerksam zu.
    «Moses hat ihnen also die Gesetze gebracht. Es waren keine Vorschriften über rituelle oder kultische Fragen, sondern Gesetze für das tägliche Leben, Gesetze, um die Gesellschaft funktionsfähig zu machen. Jene Gesellschaftsordnung war noch primitiv; es fehlte noch an den elementarsten Sittlichkeitsgeboten; an Gesetzen wie du sollst nicht töten und du sollst nicht stehlen und du sollst kein falsches Zeugnis ablegen . Heute wissen wir, dass es keine Gesellschaftsordnung geben kann, solange man duldet, dass Menschen einfach töten, stehlen und falsches Zeugnis ablegen. Eine Gesellschaft, die das zuließe, würde sich über Nacht auflösen.

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