Am Sonntag blieb der Rabbi weg
Damals aber waren solche Gesetze notwendig, damit sich die Menschen weiterentwickeln und zu Wohlstand gelangen konnten. Ist das nicht im Grunde der Kern unserer Religion – eine Reihe von Gesetzen, nach denen der Mensch leben kann?
Heute leben wir aber in einer komplexeren Gesellschaft, und folglich brauchen wir andere Gesetze – oder eine neue Auslegung der alten. Wenn heutzutage große Teile der Bevölkerung hungern und obdachlos sind, so wissen wir, dass das eine Form des Mordes ist. Wenn wir die Neger daran hindern, ihre Forderungen vorzubringen, so legen wir gewissermaßen falsches Zeugnis ab. Wenn unsere Jugend nicht auf die Stimme ihres Gewissens hören darf und von uns gezwungen wird, sich dem Willen der Mehrheit zu unterwerfen, dann verehren wir einen anderen Gott, den Gott des Establishments … Was ich damit sagen will: Die wahre Aufgabe einer Gemeinde – sei sie christlich oder jüdisch – besteht darin, die Gesellschaft ihrer Epoche funktionsfähig zu erhalten. Heute bedeutet das, sich für die Bürgerrechtsbewegung einzusetzen, für soziale Gerechtigkeit und den Frieden in der ganzen Welt.»
Brennerman schob sein Käppchen zurecht und fuhr fort: «Ich möchte erreichen, dass sich unsere Gemeinde zu all den Fragen positiv einstellt. Ich möchte erreichen, dass wir aktiv werden und dass unsere Stimme gehört wird – dass wir gemeinsam Resolutionen fassen und die Lokalpresse und unsere Kongressabgeordneten über unsere Beschlüsse informieren.
Und das genügt noch nicht, meine ich. Wenn unsere schwarzen Brüder für soziale Gerechtigkeit demonstrieren, dann sollte sich ihnen eine Abordnung unserer Gemeinde anschließen. Und wenn es zu einem Hearing über soziale Fragen kommt, dann sollen wir im Saal vertreten sein und erklären, dass das für uns religiöse Fragen sind.
Darüber hinaus schlage ich die Gründung eines besonderen Sozialfonds vor, damit unser Tempel Bestrebungen unterstützen kann, die es verdienen – ich denke etwa an die Unterstützung politischer Häftlinge in den Südstaaten oder vielleicht gelegentlich auch Wahlpropaganda für einen fortschrittlich gesinnten Politiker, wenn dessen Gegenkandidat ein notorischer Reaktionär ist.
Ich habe nie ein Hehl aus meiner Einstellung gemacht, und sie wird sicher niemanden überraschen, denn sie war die Plattform, auf der meine Kandidatur für das Amt des Vorstehers der Männergemeinde basierte. Der gesamte gegenwärtige Synagogenvorstand vertritt diese Ansichten. Die Tatsache, dass wir gewählt wurden, zeigt, dass uns die Mehrheit der Gemeinde Vertrauen schenkt. Unser Motto lässt sich in einem Satz zusammenfassen: Die Aufgabe des Tempels ist es, wahre Demokratie verwirklichen zu helfen.
Für Sie alle ist dies, wie gesagt, nichts Neues, da wir es seit eh und je predigen. Aber Predigen und Tun sind zweierlei. Deshalb möchte ich heute die erste Neuerung innerhalb unseres Synagogenprogramms bekannt geben … Demokratie muss bekanntlich zu Hause beginnen; so wollen wir an Stelle der alten Synagogenordnung, nach der immer die gleichen paar Leute ihre reservierten Plätze hatten, ein neues System einführen nach dem alten Satz ‹ Wer zuerst kommt, mahlt zuerst›.»
Ein erregtes Tuscheln ging durch die Versammlung, doch Brennerman fuhr unbeirrt fort: «Ich weiß, dass lange nicht alle Gemeindemitglieder unserer Ansicht sind. Ich weiß, dass viele unter uns finden, eine Synagoge sei zum Beten da und nur zum Beten. Das sind aber Menschen vom Schlag jener, die Aaron gezwungen haben, das Goldene Kalb zu machen, kaum dass Moses auf den Sinai gestiegen war. Menschen, die sich nie für eine Sache einsetzen, die Angst haben, auf Widerstand zu stoßen. Ihr Ideal ist eine Religion, die in ihnen ein paar fromme Regungen weckt. Ich betrachte das als Paff… Pardon – als Pfaffenreligion» (Lautes Kichern).
Er sprach noch eine Weile und verglich immer wieder die wahre Religion mit dem, was er Pfaffenreligion nannte, und er achtete jedes Mal darauf, sich nicht wieder zu versprechen. Er übertrieb es etwas. Endlich schloss seine Ansprache mit einem Appell zur Einigkeit: «Bemühen wir uns, die stärkste religiöse Gemeinde an der ganzen Nordküste zu werden!»
Dann ging er zu seinem Platz neben Gorfinkle zurück, der sich dem Brauch gemäß erhob und ihm die Hand schüttelte. Als sie wieder saßen, bildete Gorfinkle, versteckt hinter dem Gebetbuch, mit Daumen und Zeigefinger ein O zum Zeichen der Anerkennung.
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