Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Am Sonntag blieb der Rabbi weg

Am Sonntag blieb der Rabbi weg

Titel: Am Sonntag blieb der Rabbi weg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Kemelman
Vom Netzwerk:
Mann, stand im Türrahmen. Er hielt den schweren Werkzeugkasten in der knochigen Pranke wie eine leere Aktentasche. Eine schwarze Haarsträhne fiel ihm in die fliehende Stirn. Sein Gesicht war braun und wie gegerbt von der Arbeit im Freien.
    «Ich hab mit der Dame auf heute früh abgemacht», erklärte er, «aber das Haus war zu und keiner daheim … Heute hab ich nicht mehr viel Zeit, aber ich fang schon mal an und mach morgen fertig. Oder am Dienstag.»
    «Das tut mir Leid; wir sind aufgehalten worden. Wir sind erst vor einer Stunde angekommen.» Der Rabbi runzelte die Stirn. «Offen gesagt, Mr. Carter, es wäre mir lieber, wenn Sie nicht ausgerechnet am Sonntag hier arbeiten würden. Es ist immerhin Ihr Sabbat.»
    «Nee, Rabbi, ist es nicht. Nicht für mich. Und die meisten wissen das; Sie brauchen sich keine Gedanken darüber zu machen, was die Leute denken werden.»
    «Nanu?» Der Rabbi lächelte. «Sind Sie hier der Dorf-Atheist, oder was?»
    «Nein, ich bin kein Atheist. Ich geh nicht in die Kirche, aber Atheist bin ich keiner. Mein Sabbat fällt auf den gleichen Tag wie Ihrer.»
    «Sind Sie also Adventist?»
    «Auch nicht, nein. Obwohl, vieles von dem, was die glauben, halte ich für richtig … Ich halte den Sabbat an dem Tag, den mir der Herr befohlen hat.»
    «Der Herr hat es Ihnen befohlen? Wie meinen Sie das?»
    «Tja, also … Es ist ein bisschen schwer zu erklären, ja? Wissen Sie, Er hat es nicht so richtig mit Worten gesagt. Aber wenn man’s in Worten ausdrücken würde, dann hieße es ungefähr so: ‹Raphael, Ich hab sechs Tage gearbeitet, um die Welt zu erschaffen, und dann hab Ich geruht. Und das war gut so. Und was für Mich gut ist, ist auch für dich gut, weil Ich dich nach Meinem Ebenbild geschaffen habe. Ich will, dass du sechs Tage in der Woche arbeitest, und am siebenten ruhst du dich dann aus. Das ist die richtige Einteilung. Und beides ist gleich wichtig, das Arbeiten und das Ausruhen.›»
    Der Rabbi musterte ihn misstrauisch. Wollte der Mann ihn veräppeln? Aber das Gesicht des Tischlers war offen und arglos.
    «Und wann war das?», fragte der Rabbi vorsichtig. Er kam nicht recht dahinter, mit wem er es da eigentlich zu tun hatte.
    «Sie meinen, wann mir der Herr das befohlen hat?»
    «Ja. Wann hat er zu Ihnen gesprochen?»
    «Sie sind gut …» Der Tischler lachte. «Das tut Er doch dauernd. Na ja – manchmal öfter, manchmal weniger oft. Manchmal fast tagtäglich, und dann vergehen Wochen, ohne dass ich was höre … Als es das erste Mal so lange still blieb, da hab ich mir richtig Sorgen gemacht. Ich hab versucht, mit Ihm in Verbindung zu kommen; ich hab gebetet, Ihn gefragt: ‹Hat Dein Diener etwas getan, was Dir missfällt?› – Nichts. Keine Antwort … Erst am nächsten Tag wieder. Er hat gesagt, ich soll mir keine Sorgen machen, auch wenn ich nichts von Ihm höre; Er spricht nur dann zu mir, wenn Er mir was wirklich Wichtiges zu sagen hat. Und wenn Er schweigt, dann heißt das, es ist alles in Ordnung … Wie ich’s mir nachher überlegte, musste ich tatsächlich zugeben, dass es mir in letzter Zeit gut gegangen war – kein Ärger, keine Probleme, alles schön glatt – der normale Trab, wie man so sagt.»
    Unter dem Reden hatte er mit der Arbeit begonnen. Er kratzte den alten Kitt aus den Fensterrahmen, dann nahm er frischen aus einer Dose und knetete ihn in der Hand. Als er aufblickte, fielen dem Rabbi die scharfen, klarblauen Augen in dem dunkel gegerbten Gesicht auf.
    «Es war kurz nach unserer Hochzeitsreise zu den Niagarafällen, Rabbi; meine Frau und ich machten die Runde bei ihren Verwandten – wissen Sie, um mich vorzuführen, wie man so sagt … Und dann hab ich sie bei meinen Leuten vorgeführt; das war damals so Sitte … Wir besuchten auch ihre Tante Dorset und Onkel Abner in Lynnfield drüben. Es waren noch mehr Verwandte dort, lauter Vettern und Basen. Wir sitzen also in der Stube und reden so, und Tante Dorset reicht die Obstschale rum, da hör ich plötzlich eine Stimme: ‹ Erhebe dich, auf dass Ich zu dir spreche.› Ich steh also auf, und die Stimme liest mir die Schöpfungsgeschichte vor … Das Komische an der Sache ist, dass ich vorher noch nie auch nur eine Zeile aus der Bibel gelesen hatte; aber nach dem Besuch bei Tante Dorset konnte ich das ganze erste Kapitel Genesis auswendig.»
    «Und was sagte Ihre Frau dazu? Und die Verwandten?»
    «Sie erzählten mir nachher, ich bin einfach so dagestanden und hab eine ganze Weile keinen Ton gesagt. Sie

Weitere Kostenlose Bücher