Am Sonntag blieb der Rabbi weg
anderen; er hat vorher ein paar Jahre gearbeitet. Wahnsinnig begabt. Und nett und unkompliziert – nicht so … Na, du weißt schon – nicht so verbiestert, wie sie manchmal sind. Bei uns in der Schule werden da keine Unterschiede gemacht, verstehst du – schließlich ist es eine Kunstakademie. Wir betrachten ihn eben als unseresgleichen, verstehst du.»
«Dann …» Mrs. Epstein zuckte die Achseln.
Didi nahm die Hand von der Muschel: «Alan? Tut mir Leid; ich musste dich warten lassen … Hör zu, ich hab da eine Verabredung mit ein paar ehemaligen Mitschülern – Picknick am Strand. Kommst du mit? … Wir sind etwa sechs bis acht … Klappt es? Fein. – Ach, du, da fällt mir ein – ich hab unserem Rabbi versprochen, das Bild rüberzubringen, das ich zuletzt … Ja, Moses mit den Gesetzestafeln. Könntest du mich dort abholen? … Nein, wir bleiben schon nicht kleben … Also gut, pass auf: du fährst die Küstenstraße entlang aus Lynn raus und immer weiter bis zur ersten Ampel …»
Alan ließ den Motor kurz hochdrehen und stellte ihn ab. Didi, in langer weißer Hose, kletterte vom Mitfahrersitz herunter, und er schob das Motorrad die Einfahrt hinauf.
«Netter Kerl, euer Rabbi», meinte Alan. «Komisch – ich hatte einen alten Knacker mit langem Bart erwartet. Ich dachte immer, alle Rabbiner haben lange Bärte.»
«Nein …» Didi fing an zu kichern: «Bloß die Jungs bei uns in der Schule haben welche.»
«Ich hatte schon Angst, er würde daherreden wie ein Prediger – weißt du, vom lieben Gott und so …»
«Rabbiner sind nicht in erster Linie Prediger, sie sind eher Lehrer», sagte sie. «Und ihre eigentliche Aufgabe ist es, das Gesetz auszulegen und anzuwenden – so hat er’s uns jedenfalls mal erklärt.»
Mrs. Epstein begrüßte sie im Wohnzimmer. «Zum ersten Mal in Barnard’s Crossing, Mr. Jenkins? Didi hat mir schon viel von Ihnen erzählt.» Er war ein gut aussehender Junge von dunklem Kaffeebraun. Die bläulichen Lippen waren verhältnismäßig schmal, die Nase gerade und wohlgeformt. Sein Haar war kurz geschoren, und sie stellte befriedigt fest, dass er nicht versucht hatte, es zu entkräuseln. Er war mittelgroß und breitschultrig.
«Ja, Ma’am. Ich war aber schon öfters in der Gegend. Ich hab einen Bekannten in Lynn, der von Zeit zu Zeit mal ein Bild von mir verkauft …»
«Ein Kunsthändler? Ich wusste gar nicht, dass es in Lynn eine Kunsthandlung gibt …» Sie bot ihm einen Stuhl an.
«Er ist kein Kunsthändler; er hat einen Buchladen und verkauft auch Glückwunschkarten, Geschenkartikel und solches Zeug. Wenn er Platz hat, hängt er meine Bilder auf, und wenn er eins verkauft hat, rechnen wir ab.»
«Verkaufen Sie viel auf diese Weise?»
Er lachte; ein herzliches, offenes Lachen: «Nicht genug, um mich zur Ruhe zu setzen … Ich will morgen früh nach New York, und da dachte ich, frag mal nach, ob er ein bisschen Reisegeld hat für dich – aber es war Essig.»
«Was malen Sie denn so, Mr. Jenkins?»
«Oh, Alan malt ganz tolle abstrakte …»
Draußen erklang eine Autohupe. «Das ist Stu. Komm, Alan», rief Didi.
«Nimm eine Jacke mit, Liebling. Es wird sicher kühl dort draußen.»
«Nicht nötig.»
«Also dann – amüsiert euch gut! Auf Wiedersehen, Mr. Jenkins. Und viel Glück mit Ihren Bildern.»
20
Moose fand die Straße im südlichen Boston, und je länger er sich zwischen überquellenden Mülleimern und Rudeln kreischender Kinder seinen Weg bahnte, umso weniger gefiel ihm seine Umgebung. Gewiss, es musste einmal eine gute Gegend gewesen sein; die Fahrbahnen waren durch einen breiten Grünstreifen getrennt, auf dem in regelmäßigen Abständen Holzbänke zum Sitzen einluden. Aber der Rasen war ungepflegt, und unter den Bänken häuften sich Papierabfälle, Konservenbüchsen und Flaschen. Sandsteinhäuser säumten den breiten Gehsteig; Treppen mit schmiedeeisernen Geländern führten zu geschnitzten Haustüren, aber nur Schraubenlöcher zeigten, wo einmal Klopfer und Klinken aus Messing oder Schmiedeeisen gesessen haben mochten, und am Holzwerk blätterte die Farbe ab und gab den Blick frei auf eine bunte Palette noch älterer Anstriche. Hohe, schmale Fenster ließen einstige Eleganz repräsentativer Räume ahnen, die dahinter lagen. Heute waren die Scheiben blind, zerbrochen oder auch durch verwittertes Sperrholz ersetzt. Gehsteige und Hauswände waren mit Kreide bekritzelt.
Endlich fand Moose die gesuchte Hausnummer. Anstelle des Klingelbretts
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