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Am Sonntag blieb der Rabbi weg

Am Sonntag blieb der Rabbi weg

Titel: Am Sonntag blieb der Rabbi weg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Kemelman
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hatte.»
    «Weil Carter ihn durch den Kakao gezogen hat? Er dürfte an derlei gewöhnt sein. Es passiert ihm alle Tage; dieser Zwischenfall war nur einer von vielen.»
    «Stimmt. Aber der Krug geht nur so lange zum Brunnen, bis er bricht, und irgendwann läuft das Fass über – vielleicht war das Gerede von Carter gerade der entscheidende Tropfen … Warum wehren Sie sich gegen meine Theorie? Ich hätte gedacht, sie kommt Ihnen entgegen.»
    «Warum sollte sie das? Weil ein junger Mann, der mich kurz zuvor noch in meinem Hause besucht hat, des Mordes verdächtigt wird?»
    «Denken Sie doch mal praktisch, Rabbi! Moose Carter ist ermordet worden, ja? Mit anderen Worten: Jemand hat ihn umgebracht. Und auf wen fällt der Verdacht? Erst mal auf junge Leute aus Ihrer Gemeinde; in zweiter Linie auf Meyer Paff, auch einer von Ihren Leuten … Da sollte man doch meinen, Sie wären froh, wenn sich herausstellt, dass es ein Fremder war!»
    «Ach so – der Fremde. Gott sei Dank, wir haben einen Sündenbock!» Der Rabbi stand auf und begann im Zimmer auf und ab zu wandern. «In einigen Tagen feiern wir Pessach , Mr. Lanigan. Das ist kein Fest wie die andern, und wir begehen es auch auf eine besondere Weise. Zuerst schaffen wir sämtliche Lebensmittel aus dem Haus. Während der Pessach -Woche kaufen wir andere ein und bereiten sie in besonderen Töpfen zu, die sonst während des ganzen Jahres nicht benutzt werden. Wir essen auch von anderen Tellern und mit anderem Besteck als sonst … Am Vorabend und am ersten Abend des Festes gibt es ein großes Essen, dem an beiden Tagen eine Zeremonie vorangeht: Der jüngste Anwesende stellt bestimmte Fragen über die Bedeutung des Festes. Die übrige Tischgesellschaft antwortet; sie berichtet, wie wir als Sklaven in Ägypten unterdrückt waren und wie Gott unser Klagen erhört und uns aus Sklaventum und Unterdrückung befreit hat.»
    «Sehr schön, Rabbi. Mir ist das Fest bekannt. Aber was wollen Sie damit sagen? Worauf wollen Sie hinaus?»
    «Darauf, dass Pessach nicht ein gewöhnliches Dank- und Freudenfest ist … Wir haben auch solche Feiertage, aber nur an Pessach ist ein bestimmtes Ritual vorgeschrieben, das in einem Buch festgelegt ist, der Haggadah ; und deren Anweisungen müssen wir genau befolgen … Warum wohl?»
    «Sagen Sie es mir.»
    «Um uns die Moral von der Geschichte einzuprägen», sagte der Rabbi. «Die Pessach -Bräuche sind eine Gedankenstütze, eine Art Knoten im Taschentuch, wenn Sie so wollen: Damit wir uns stets vor Augen halten, was wir sonst verdrängen oder vergessen würden.»
    «Einmal im Jahr wäscht der Papst den Bettlern die Füße», bemerkte Lanigan.
    «Richtig. Zum Zeichen der Demut … Es wäre noch besser, alle Ihre Glaubensbrüder müssten das tun.»
    Lanigan lachte. «Schon gut, Rabbi. Und was leiten Sie aus dem Pessach -Fest für unseren Fall ab?»
    «Mit Pessach hängt ein Gebot eng zusammen, das in unserer Religion eine wichtige Rolle spielt: Und wenn ein Fremder in eurer Mitte weilt, sollt ihr ihm kein Unrecht tun … Er sei gleich einem aus eurer Mitte; denn Fremde wart ihr im Lande Ägypten. »
    «Wollen Sie damit sagen …» Langian runzelte die Stirn: «… dass ich Jenkins gegenüber unfair bin, weil er schwarz ist und nicht aus unserer Stadt?»
    «Haben Sie ihn schon festgenommen? Hat er gestanden?»
    «Nein. Aber wir kriegen ihn schon noch … Es liegt nur an diesem verdammten Motorrad: Ein Auto muss man irgendwo parken, aber das Ding kann man in jedem Hausgang verstecken … Die New Yorker Polizei ist verständigt. Sie werden ihn schon auftreiben.»
    «Aber Sie können ihm gar nichts nachweisen. Sie unterstellen ihm ein Motiv; das ist einstweilen alles.»
    «Sind Sie sicher?» Lanigan grinste. «Was glauben Sie wohl, weshalb ich die jungen Leute am Abend des Mordes heimgeschickt habe?» Er wurde wieder ernst. «Rabbi, wir haben uns ein bisschen umgeschaut da draußen an Tarlow’s Point. Vor dem Haus ist eine dichte Hecke, und dahinter haben wir etwas entdeckt …» Er hielt einen Augenblick inne, dann fuhr er fort: «Reifenspuren. Von einem Motorrad.»
47
    Der Zimmermann trat schwerfällig ein, nahm den altmodischen Filzhut mit der breiten Krempe ab und setzte sich, vom Rabbi aufgefordert, auf die Stuhlkante.
    «Meine Frau hat gesagt, ich soll mich umziehen», rechtfertigte er seinen schwarzen Anzug. Die Schuhe waren auf Hochglanz poliert, der Kragen des weißen Hemdes war zu eng und die Krawatte zu bunt. «Weil Sie doch schließlich

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