Am Sonntag stirbt Alison
verschwunden.
***
Die tre Wintersonne verschwand schon früh hinter einem der mehrgeschossigen Häuser. Mit der Dunkelheit wurde es still. Lys lehnte an einer Betonmauer und bemerkte, dass die Kinder vom Spielplatz verschwunden waren und sie nun allein war. Sie starrte zu den erleuchteten Fenstern der Wohnanlage hinauf. Bei Tageslicht hatten die Gebäude modern und eigentlich ganz einladend ausgesehen. Doch jetzt, in der Abenddämmerung, wirkte die Fassade eher trist und abweisend. Lys fröstelte. Sie zog die Ärmel ihrer Daunenjacke weiter nach unten. Dann trat sie näher an die Haustür heran und betrachtete die beleuchtete Klingelanlage. Auf dem dritten Schild von unten stand Jack + Beate McKinley .
›Geh nie zu einem Fremden in die Wohnung.‹ Wie viele Tausend Male hatte sie diesen Satz als Kind gehört? Und das hier war noch nicht mal einfach irgendein Fremder. Es war ein Mann, der vielleicht gerade ein Gewaltverbrechen plante. Oder es sogar schon begangen hatte.
O.k. Es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder du ziehst die Sache durch oder du drehst jetzt um und vergisst das Ganze. Aber wenn du recht hattest, ist Alison dann erledigt.
Lys biss sich auf die Unterlippe. Dann holte sie tief Luft und drückte auf den Klingelknopf.
Kaum hatte sie geklingelt, wäre sie am liebsten so schnell wie möglich durch die Dunkelheit davongerannt.
Aber es war zu spät. In diesem Moment ertönte eine Stimme aus dem Lautsprecher. Eine Männerstimme. »Ja?«
»Hallo.« Lys musste sich räuspern, so heiser war sie plötzlich. »Ich heiße Lysande Thieler.«
»Ja?« Die Stimme klang erstaunt.
Die ganze Fahrt über hatte sie darüber nachgedacht, was sie in diesem Moment sagen sollte. Auf keinen Fall durfte er denken, dass sie ihm hinterherschnüffelte oder ihn für verdächtig hielt. Es musste irgendwie ganz harmlos klingen, sodass er nicht gleich misstrauisch wurde, wenn sie ein paar Fragen zu seiner Tochter stellte. Ihr Plan war nicht gerade umwerfend, aber einen besseren hatte sie nicht.
»Ich… äh, ich bin eine ehemalige Schulkameradin von Alison. Und ich habe etwas Komisches gehört, von ein paar Freunden. Darüber wollte ich mit Ihnen reden.«
Stille. Das Schweigen dehnte sich so lange, dass Lys schon dachte, der Mann habe längst wieder aufgelegt und beschlossen, sie draußen stehen zu lassen. Dann, plötzlich und ohne ein weiteres Wort, summte der Türöffner. Lys holte tief Luft und stemmte sich gegen die Tür.
Langsam stieg sie die Treppe hinauf.
Warum hatte sie Sibel eigentlich nicht gesagt, dass sie die Polizei rufen und nach Bonn-Beuel schicken sollte, wenn sie sich bis spätestens acht Uhr nicht gemeldet hatte? Jetzt ist es zu spät. Zweiter Stock, nur noch ein paar Stufen. Wenigstens eine SMS konnte sie noch schicken.
Lys zog ihr Handy aus der Tasche, begann zu tippen. Da kam jemand die Treppe hinuntergesprungen, blieb auf dem Absatz über ihr stehen und beugte sich über das Geländer hinunter. Hastig ließ Lys ihr Handy wieder in der Hosentasche verschwinden.
»Bist du L…, Li… wie war noch mal dein Name?«
»Lysande.«
»Ah. Wie ungewöhnlich. Heißt so nicht eine Figur bei Shakespeare?«, fragte der Mann. Lys starrte zu ihm hinauf. Er war groß, hager und im hellen Licht der Gangbeleuchtung wirkte er geisterhaft bleich.
»Komm doch«, sagte er. Lys schätzte ihn auf Ende vierzig. Seine Haare mussten einmal blond oder rötlich gewesen sein, waren inzwischen aber zu einem matten Grau verblasst. Er wartete, bis Lys den Treppenabsatz erreicht hatte, dann schritt er an ihrer Seite weiter nach oben. Lys hatte das Gefühl, dass er jede ihrer Bewegungen beobachtete. Sie überlegte, sich einfach umzudrehen und an ihm vorbei die Treppe hinunterzurennen. Vielleicht war das jetzt ihre letzte Chance. Der Mann wirkte sportlich, jemand, der regelmäßig ins Fitnessstudio ging. Wenn sie erst in seiner Wohnung war, würde sie ihm kaum noch entkommen können.
»Bitte.« Vor ihnen stand eine Wohnungstür halb offen, weiches Licht fiel auf den Treppenabsatz hinaus. Er fragt gar nicht danach, was ich will, dachte Lys. Würde das nicht jeder tun, bevor er jemand Wildfremdes in die Wohnung bittet? Lys zögerte, doch der Mann machte erneut eine einladende Handbewegung, bei der Lys eine leichte Gänsehaut im Nacken verspürte. Sie trat ein. Ein schmaler Flur, von dem mehrere Türen abgingen. Zur Rechten eine Garderobe, an der ein Frauenmantel und eine Handtasche hingen, darunter ein Schuhregal mit mehreren Paar
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