Am Sonntag stirbt Alison
aber in einer Sprache, die Lys nicht verstand – Spanisch oder Portugiesisch vielleicht.
Lys klappte das Album zu und nahm das zweite aus dem Regal. Sie hielt einen Moment inne und horchte in den Flur hinaus, aber es war kein Laut zu vernehmen. Die Bilder in dem zweiten Album waren offensichtlich in Deutschland gemacht worden. Alison war jetzt wesentlich älter und sah aus wie auf den Fotos im Internet. Statt Rüschenkleider trug sie nun meistens Jeans und T-Shirt. Das Album enthielt auch viele Fotos von Mitschülern; insbesondere Alex und Leo tauchten häufig auf. Auf vielen Bildern war auch hier ihre Mutter zu sehen. Bilder, auf denen Herr McKinley mit seiner Tochter abgebildet war, gab es dafür nur sehr wenige.
Auf den letzten Seiten tauchte ein großformatiges Foto auf mit Alison und ihrer Mutter auf der Terrasse eines Cafés. Sie saßen beide in Korbstühlen und lächelten über zwei große Eisbecher hinweg. Unter das Foto hatte Alison einen Prospekt geklebt. »Café Sonne« stand in rotbrauner Schrift darauf. Dahinter waren die Seiten leer.
Lys starrte auf das Fotoalbum. Dies war anscheinend das letzte Foto, das von Alison existierte.
In diesem Moment wurde sie am Arm gepackt.
Mit einem Aufschrei ließ Lys das Album fallen und fuhr herum. Hinter ihr stand McKinley, das Gesicht vor Wut verzerrt. »Wer bist du?«, brüllte er. »Was hast du hier zu suchen?«
Lys versuchte sich loszureißen. »Ich… ich bin Lysande Thieler, das habe ich doch gesagt…«
»Lüg mich nicht an!«, brüllte McKinley. »Du gehst nicht auf die Max-Beller-Schule, du weißt nichts über diese Schule! Dort wird kein Französisch unterrichtet und den Namen Siegmund-Egerich habe ich erfunden! Und jetzt spionierst du in unseren Sachen herum! Wer hat dich geschickt? Rede!«
»Was? Niemand schickt mich! Lassen Sie mich los, Sie tun mir weh!«
»Mein Gott, Jack, was ist denn hier los?«, schrie in diesem Moment eine schrille Frauenstimme von der Tür.
McKinley ließ Lys’ Arm los und drehte sich um. Eine blonde Frau stand in der Tür und starrte entgeistert von Lys zu McKinley und wieder zurück. Lys machte Anstalten, auf sie zuzurennen, sie war sich sicher, die Frau beiseiteschubsen und fliehen zu können, doch schon hatte McKinley wieder ihren Arm gepackt. »Ruf die Polizei an, sofort!«, keuchte er. »Dieses Mädchen hat sich mit einer Lügengeschichte in unsere Wohnung geschlichen und jetzt spioniert sie durch Alisons Alben.«
O.k., dachte Lys, jetzt ist es wohl doch besser, die Wahrheit zu sagen. Wenn die Polizei hier auftaucht, wird sie mir nach dieser Aktion noch viel weniger glauben als ohnehin schon. »Hören Sie, es stimmt, ich gehe nicht auf die Max-Beller-Schule und Alison habe ich nie gesehen!«, rief sie. »Aber ich habe diesen Eintrag gelesen und mir Sorgen um sie gemacht, deshalb bin ich hier!«
»Wie – du hast dir Sorgen um sie gemacht?« McKinley war so überrascht, dass er Lys endlich wieder losließ. »Sie ist verschwunden! Seit drei Jahren schon!«
»Ja, weiß ich. Von der Website, die Sie ins Netz gestellt haben«, sagte Lys. »Und ich dachte – ich dachte, wer immer den Eintrag geschrieben hat, weiß, wo Alison ist, und will sie töten. Und deshalb wollte ich Ihnen Bescheid sagen.«
»Warum hast du das nicht gleich gesagt?«, fragte McKinley, jetzt schon etwas ruhiger geworden.
»Ich – ich habe gedacht, wenn ich hier einfach so ankomme, dann glauben Sie mir das Ganze sowieso nicht«, lieferte Lys die erstbeste Erklärung, die ihr in den Sinn kam.
»Das ist doch Schwachsinn!«, rief McKinley. »Deshalb schleicht man sich doch nicht in eine fremde Wohnung ein. Hat deine Mutter dich so erzogen?«
»Meine Mutter ist tot!«, rief Lys wütend.
McKinley sah sie verdutzt an.
»Also, jetzt mal eins nach dem anderen.« McKinleys Frau hatte sich offenbar gefangen und schritt entschlossen in den Raum hinein. »Jack, du solltest dich hinsetzen. Und du bitte auch«, sagte sie zu Lys. »Und dann erzählst du uns noch einmal ganz von vorne, was du hier wirklich willst.«
***
Zehn Minuten später saß Lys in einem der Ledersessel im Wohnzimmer, hatte eine Tasse Tee in den Händen und berichtete den beiden McKinleys, die sie nicht eine Sekunde aus den Augen ließen, was sie zu ihnen geführt hatte. Sie blieb dabei weitgehend bei der Wahrheit. Natürlich erwähnte sie trotzdem mit keinem Wort, dass ihr Verdacht gegen Herrn McKinley der eigentliche Grund für ihre Reise nach Bonn gewesen war. McKinley saß
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