Am Sonntag stirbt Alison
Ampel unruhig auf das Lenkrad ein und ständig wechselte er den Radiosender, aus dem nacheinander Rockmusik, eine Popschnulze, ein Klassikkonzert und Volksmusikgedudel dröhnten.
»Warum haben Alison und ihre Mutter Mexiko überhaupt verlassen?«, fragte Lys. »Es schien ihnen dort doch ziemlich gut zu gehen. Ich meine, eine Villa mit Swimmingpool, Dienstboten, Geld ohne Ende…«
McKinley antwortete nicht gleich. Er zog das Auto nach links auf eine Abbiegespur, sah lange und ausgiebig in den Rückspiegel. »Nachdem Marias Vater gestorben war, hat sich wohl vieles verändert«, sagte er schließlich. »Es gab offenbar einen ziemlich hässlichen Streit um sein Erbe. Marias Mutter war früh gestorben und ihr Vater hatte eine jüngere Frau geheiratet. Die machte nach seinem Tod Maria die Erbschaft streitig. Es ging bis vor Gericht und danach hatte Maria keine Lust mehr, in der direkten Nachbarschaft ihrer Stiefmutter zu leben. Sie beschloss deshalb, in meine Nähe zu ziehen, damit Alison etwas von ihrem Vater hat. Das war vor so ungefähr viereinhalb Jahren.«
Also eineinhalb Jahre vor Alisons Verschwinden, rechnete Lys sich aus. »Und seit wann leben Sie hier in Deutschland?«, fragte sie.
»Seit fünfzehn Jahren schon. Ich stamme ursprünglich aus Glasgow in Schottland.«
Lys dachte einen Moment lang nach. »Wissen Sie eigentlich, was aus Alex und Leo geworden ist?«, fragte sie dann.
Auf dem Beifahrersitz schüttelte Beate McKinley den Kopf. »Leo war, soweit ich weiß, nur für ein Jahr hier. Vermutlich ist er längst nach Kanada zurückgekehrt. Und Alex – früher hat er drüben in Königstein gewohnt. Wolfgang Berghäuser, sein Vater, hatte dort dieses Hotel, aber das hat vor einiger Zeit dichtgemacht, keine Ahnung, wo sie danach hingezogen sind.«
Lys stöhnte innerlich. Die einzigen zwei Personen, die außer McKinley als Verdächtige infrage kamen, waren also sonst wohin verschwunden!
»Da wären wir.« McKinley fuhr in eine Parkbucht.
»Danke schön.« Lys stieg aus und hängte sich den Rucksack über die Schulter.
»Auf Wiedersehen und noch einmal danke für deine Nachricht«, sagte Beate McKinley höflich. Ihr Mann erwiderte nichts.
Lys griff nach der Tür, um sie zuzuschlagen, hielt dann aber doch noch einmal inne. »Sagen Sie – außer Leo und Alex fällt Ihnen wirklich niemand ein, der einen Grund gehabt haben könnte, Alison etwas zuleide zu tun?«, fragte sie.
Die beiden McKinleys starrten sie an und Lys bemerkte erstaunt, dass Jack McKinley erneut kreidebleich geworden war. »Nein«, sagte er. »Nein. Niemand.«
Das Auto entfernte sich schnell durch die dunkle Straße und nach wenigen Augenblicken war nichts mehr außer den Rücklichtern zu sehen. Nachdenklich drehte Lys sich um und schritt auf den Eingang der Jugendherberge zu.
Freitag
Lys verbrachte die Nacht in einem Sechsbettzimmer, das sie sich mit zwei Japanerinnen und drei Schwedinnen teilte. An Schlafen war kaum zu denken; das Licht brannte bis in die Morgenstunden, weil eine der Schwedinnen offenbar einen besonders spannenden Roman zu Ende lesen wollte, während ihre beiden Reisegefährtinnen bis ein Uhr nachts laut tratschten und kicherten. Eine der Japanerinnen tippte mehrere Stunden lang unter lautem Schluchzen auf ihr Handy ein, was Lys vermuten ließ, dass sie entweder unter schrecklichem Heimweh litt oder ihr Freund gerade per SMS mit ihr Schluss gemacht hatte.
Ziemlich erschöpft schlich Lys am nächsten Morgen in den Frühstücksraum hinunter, wo sie sich einen Milchkaffee und zwei Marmeladenbrötchen gönnte. Die Schwedinnen saßen am Nebentisch, wo sie immer noch unentwegt quasselten, auch die, die in der vergangenen Nacht eigentlich gar nicht geschlafen hatte, die Japanerinnen waren nirgends zu sehen. Nach dem Frühstück lief Lys in die Eingangshalle zurück. Ihr Blick fiel auf eine altmodische Telefonzelle an der Wand. Ein zerfleddertes Telefonbuch lag unter dem schwarzen Münztelefon. Wolfgang Berghäuser, Königstein. Na bitte. Lys kramte in der Tasche nach ihrem Handy und wählte.
Sie ließ es lange klingeln und war schon kurz davor, wieder aufzulegen, als endlich der Hörer abgenommen wurde.
»Schmidt!«
»Ähm. Hallo. Mein Name ist Lysande Thieler. Ich wollte eigentlich jemanden von der Familie Berghäuser sprechen.«
»Wen bitte?«
»Die Familie Berghäuser. Ähm… das müsste mal ihre Nummer gewesen sein.«
»Ach, könnte sein, dass das die Vormieter waren. Wir haben die Nummer von ihnen übernommen,
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