Am Sonntag stirbt Alison
Sie sie los, sofort!«
Der klammernde Griff um Lys Arm lockerte sich nicht einen Millimeter. Norman Bates trug heute eine dunkle Uniform, auf deren linker Brusttasche ein Schild mit der Aufschrift Wachdienst angebracht war. Bei Tageslicht glich seine Statur noch mehr der eines Profiboxers.
»Was habt ihr hier verloren?«, brüllte er.
»Wir… haben nur eine kleine Wanderung gemacht und dachten, hier entlang gäbe es eine Abkürzung«, stotterte Lys. Sebastian nickte heftig. Der Rottweiler ließ erneut ein wütendes Knurren hören.
»Und den Mist soll ich euch glauben?« Der Wachmann fuchtelte drohend mit seiner Pistole in der Luft herum. »Los, mitkommen, wir gehen zum Chef!« Der Hund unterstrich die Forderung mit einem bösartigen Bellen. »I… ist ja gut«, stotterte Sebastian, und als der Mann eine unwillige Handbewegung nach rechts machte, trottete er gehorsam in die angegebene Richtung. Norman Bates zerrte Lys hinterher. Er scheuchte sie am Zaun entlang bis zur Vorderseite des Hauses und dort zur Eingangstür. Die Pistole immer noch auf sie gerichtet, nahm er den Hund endlich an die Leine und stieß dann die Tür auf.
»Rein da!«, befahl der Mann.
»Moment mal…«, begann Sebastian. In seinem Blick lag leichte Panik.
»Hören Sie, das ist Freiheitsberaubung!«, erklärte Lys wütend.
»Und was ist das, was ihr da macht, hä? Spioniert ehrbare Leute aus! Hat euch der Löber geschickt, was?«
»Welcher Löber?«, fragte Sebastian.
»Wir zeigen euch an!«, brüllte der Mann. »Das gibt eine Anzeige wegen Hausfriedensbruch und Verletzung der Privatsphäre! Das wird teuer für euch werden, das verspreche ich!«
Lys atmete tief durch. »Hören Sie, wir haben nichts mit einem Herrn Löber zu tun!«, erklärte sie. »Wir sind rein zufällig vorbeigekommen und…«
»Ach, hört schon auf! Ich habe genau gesehen, wie ihr durch das Fenster geglotzt habt, wo der Junge liegt. Klar, so etwas interessiert die Konkurrenz. Die lauern doch schon die ganze Zeit darauf, irgendeine Schwachstelle von Herrn Berghäuser zu finden. Gönnen es ihm nicht, dass er wieder einen Fuß auf den Boden gekriegt hat. Erbärmlich, diese Bande! Als ob der Mann vom Schicksal nicht schon genug gestraft worden ist, mit einem Sohn, der im Koma liegt!«
»Wir haben nur durch das Fenster geschaut, weil…«, begann Sebastian, doch welche Erklärung er sich auch immer aus den Fingern saugen wollte, sollte Lys nicht mehr erfahren. Denn in diesem Moment waren Schritte zu hören und kurz darauf erschien Julia Sommer im Hausflur. »Was ist denn hier los?«, fragte sie. Dann erkannte sie Lys und Sebastian. »Was macht ihr denn hier?« Aha, dachte Lys, jetzt werden wir also auf einmal nicht mehr gesiezt.
»Diese zwei Halbstarken haben durchs Fenster geglotzt«, behauptete der Wachmann. »Durchs Fenster Ihres Cousins!«
»Wir sind nur durch Zufall oben am Zaun entlanggekommen«, versuchte Lys zu erklären. »Und als das Licht im Zimmer anging, sind wir einfach – erschrocken.«
»Erschrocken. Jaja. Mindestens fünf Minuten lang haben die beiden rübergestarrt! Und zwar schon bevor das Licht anging!«, knurrte der Wachmann.
Julia Sommers Gesicht, das bis jetzt nur verwirrt ausgesehen hatte, nahm jetzt einen wütenden Ausdruck an. »Wer schickt euch?«, fragte sie böse. »Löber?«
»Wer in aller Welt ist dieser Löber?«, fragte Sebastian entnervt.
»Niemand schickt uns«, beteuerte Lys.
»Und was bitte hattet ihr dann dort oben zu spionieren?«, fragte Julia Sommer. Ihre Stimme klang jetzt fast so wie das Knurren des Rottweilers.
Lys suchte fieberhaft nach einer Ausrede. Es gelang ihr nicht und so seufzte sie schließlich und gab zu: »Es geht um Alison.«
»Wie bitte?«, fragte Julia Sommer entgeistert.
»Alison?«, fragte eine Stimme aus dem Halbdunkel des Gangs und Leo Lambert trat neben sie.
»Ja, Alison.« Lys richtete sich zu ihrer vollen Größe auf. Warum eigentlich nicht die Wahrheit sagen und sehen, wie Leo Lambert darauf reagierte? »Wir glauben, auf eine Spur von ihr gestoßen zu sein.«
Julia tastete nach der Türklinke, als ob sie plötzlich Halt brauchte. Leo schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen. »Was… was wisst ihr über Alison? Habt ihr sie gekannt?«, fragte Julia, deren Blässe jetzt selbst durch die mehreren Schichten Make-up gut zu erkennen war.
Lys schüttelte den Kopf. »Ich habe im Internet etwas über sie und ihre Geschichte gelesen«, erklärte sie.
Julia schüttelte unwillig den Kopf.
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