Am Sonntag stirbt Alison
einer ihrer Hotelgäste und nicht ein alter Kumpel.«
»Am Schluss hat sie mit mir ja wohl eher geredet wie mit jemandem, dem man an die Gurgel gehen möchte.« Leo schnitt eine Grimasse. »Na ja, ein bisschen so war sie schon früher. Sie hat sich immer für ziemlich erwachsen und Alex für einen kindischen Spinner gehalten. Es war ihr großer Traum, Schauspielerin zu werden. Nicht Theater, nur Film. Hollywood und so. Sie hielt sich für einen zukünftigen Star. So eine neue Angelina Jolie, der die Welt zu Füßen liegt. Glamour, Reichtum, Ruhm und so weiter. Genau die Dinge, die Alex hasste. Irgendwie waren die beiden, jeder auf seine Art, durchgeknallt und größenwahnsinnig. Das hat natürlich für Streit gesorgt, vor allem, weil Julia in Wirklichkeit eine grauenvolle Schauspielerin war, weshalb Alex ihr immer nur eine unbedeutende Nebenrolle gegeben hat. Julia kreischte dann ständig während der Proben herum, dass ihr Talent verkümmere und er sich noch wundern würde, wenn sie erst mal einen Oscar bekommen hätte, und so weiter.«
»Na, da ist ja ganz offensichtlich nichts draus geworden«, stellte Sebastian fest.
Leo schüttelte langsam den Kopf. »Es ist echt frustrierend«, sagte er. »Ich meine, sie hatten all diese Träume und Ideen, und jetzt? Alex wollte der Che Guevara des Internetzeitalters werden und jetzt liegt er als lebendige Leiche in einem Krankenhausbett. Julia wollte ein Hollywood-Star sein und strampelt sich stattdessen im Hotel ihres Onkels in der hintersten Provinz ab. Und Alison… wisst ihr, sie wollte Jura studieren. Sie kam aus einer Gegend in Mexiko, in der die Drogenmafia die Gesetze machte. Ständig wurden da Menschen ermordet, weil sie zu einem konkurrierenden Clan gehörten, und wenn es mal jemand von der Polizei wagte, den Kampf gegen die Drogenkartelle aufzunehmen, fand man ihn oft kurze Zeit später mit einer Kugel im Kopf. Es gibt dort steinreiche Leute, die sich den Anschein anständiger Fabrik- oder Landbesitzer geben, aber jeder weiß, dass sie in Wirklichkeit der Kopf einer Drogenbande sind. Doch niemand tut wirklich etwas gegen sie, weil sie alle zu viel Angst um ihr Leben haben. Kein Polizist wagt, sie zu verhaften, und kein Zeuge wagt, gegen sie auszusagen. Alison hat manchmal gesagt, sie wolle in ihrer Heimatgegend Richterin werden und all diesen Verbrechern das Handwerk legen.«
»Puh. Das klingt aber ziemlich gefährlich«, meinte Sebastian.
»Alison hatte vor gar nichts Angst«, sagte Leo lächelnd. »Vielleicht war das ihr Fehler. Ihre Mutter war immer dagegen, dass sie alleine im Wald joggen geht, aber Alison fand das lächerlich. Sie sagte immer: ›Wenn mich einer angreift, wird der schon sehen, was er davon hat.‹ Sie war unglaublich sportlich, machte Leichtathletik, war in der Schwimmmannschaft, ging zum Boxen. Wir haben immer gesagt: ›Der arme Perverse, der versucht, sich an Alison zu vergreifen, wird von ihr wahrscheinlich krankenhausreif geschlagen.‹ Als sie verschwand, konnte ich erst gar nicht glauben, dass sie Opfer eines Verbrechens geworden sein sollte. Ich dachte wirklich, dass sie Krach mit ihren Eltern gehabt hätte und sich für ein paar Tage absetzen wollte«
»Hätte sie so etwas denn getan?«, fragte Lys.
»Eigentlich nicht«, seufzte Leo. »Sie schien sich immer großartig mit ihren Eltern zu verstehen. Und was ihre Mutter betraf… Der ging es psychisch nicht gut. Sie fühlte sich in Deutschland nicht wohl, glaube ich, und ihr Vater war kurz zuvor gestorben. Ich weiß, dass sie ständig Medikamente nahm, Beruhigungsmittel, Antidepressiva und so Zeug. Es war deshalb eher so, dass Alison sich um ihre Mutter gekümmert hat, statt ihre Mutter sich um sie.«
»Moment mal«, unterbrach ihn Lysande. »Alisons Vater hat mir erzählt, seine Exfrau habe die Beruhigungsmittel erst nach Alisons Verschwinden genommen.«
»Alisons Vater?«, fragte Leo erstaunt. »Kennt ihr ihn?«
»Ich bin ihm mal begegnet«, sagte Lys ausweichend.
»Und? Hält er mich immer noch für Alisons Mörder?«, fragte Leo bissig.
»Ich glaube nicht«, sagte Lys. »Seine Frau sagte… na ja.« Sie wurde rot.
»Was hat sie gesagt?«, fragte Leo.
»Na ja, dass du in Alison verliebt warst.« Sie nahm schnell einen Schluck von ihrem Latte macchiato. »Und auch Herr McKinley meinte, dass du auf ihn nicht wie ein Mörder gewirkt hast.«
Leo hob die Augenbrauen. »Das ist ja liebenswert!«
»Warst du denn in sie verknallt?« Sebastian grinste.
Leo begann, konzentriert
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