Am Sonntag stirbt Alison
in seinem Espresso herumzurühren. »Auf jeden Fall kann ich mir nicht vorstellen, dass Alison ihre Mutter so im Stich gelassen hätte«, meinte er nach einer Weile, ohne auf Sebastians Frage weiter einzugehen.
»Na ja, vielleicht ist sie ja gerade deshalb abgehauen«, überlegte Lys. »Vielleicht ist Alison diese ganze Sache mit ihrer depressiven Mutter einfach zu viel geworden.«
»Aber dann hätte sie sich doch irgendwann gemeldet!«, meinte Leo. »Wenigstens eine Postkarte hätte sie doch schicken können, dass es ihr gut geht, oder?«
»Wusstest du, dass Alisons Mutter sich umgebracht hat, ein Jahr nach Alisons Verschwinden?«, fragte Lys.
»Ich dachte, es war ein Autounfall«, entgegnete Leo erstaunt.
»Sie hatte wohl eine Überdosis Beruhigungsmittel im Blut«, sagte Lys. »Und sie war auf dem Heimweg von diesem Café Sonne, wo sie früher oft mit Alison gewesen war. Und genau an diesem Tag hatte sie sich dort mit einem Mann getroffen.«
»Und?«, fragte Leo.
»Was und?«
»Nun, du sagst das so, als ob du einen Zusammenhang siehst zwischen diesem Mann und dem Selbstmord.«
»Keine Ahnung.« Lys hob die Schultern. »Vielleicht war er ihr Liebhaber und hat an dem Tag mit ihr Schluss gemacht.«
»Ich dachte schon, du glaubst, der Typ habe ihr die Medikamente heimlich in den Tee geschüttet, um sie umzubringen«, stellte Leo fest.
»Sie haben Kaffee getrunken«, verbesserte Lys. »Und warum hätte jemand Alisons Mutter umbringen wollen?«
»Habt ihr denn eine Ahnung, wer der Typ war, mit dem sich Alisons Mutter getroffen hat?«, fragte Leo.
Lys schüttelte den Kopf. »Nur dass er Mitte vierzig war, gut angezogen, aber etwas unhöflich. So hat ihn die Cafébesitzerin beschrieben.«
»Anhand der Beschreibung findet ihn die Polizei bestimmt«, spottete Sebastian.
Leo ließ sich zurücksinken. »Was machen wir denn jetzt bloß?«, fragte er.
Lys zog ihr Handy heraus. »Immer noch kein Empfang«, seufzte sie. »Schade. Ich würde nämlich gerne mal Herrn McKinley anrufen und fragen, was die Polizei gesagt hat.«
»Gute Idee – oh shit, in Deckung, schnell!« Sebastian verschwand halb unter dem Tisch.
»Was ist denn?«, fragte Lys erstaunt und drehte sich um.
Julia Sommer stand in der Tür. Sie war immer noch etwas blass um die Nase. Sebastians Versuch, sich unsichtbar zu machen, zum Trotz steuerte sie zielstrebig auf ihren Tisch zu. Leo blickte ihr finster entgegen. »Gilt das Hausverbot auch für euer Café?«, fragte er ärgerlich.
Sie seufzte. »Leo, es tut mir leid«, sagte sie. »Ich weiß, du hast es nur gut gemeint. Es ist nur… die ganze Geschichte mit Alex geht mir furchtbar nahe. Da kommt es manchmal vor, dass ich etwas überreagiere.«
»Kann man wohl sagen«, murrte Leo.
»Schließen wir Frieden?«, bat sie.
Er nickte knapp und sie zog einen Stuhl heran und setzte sich. »Ihr versucht also tatsächlich, Alison zu finden? Nach all den Jahren?«
Lys nickte. Sebastian kam unter dem Tisch hervor.
»Und habt ihr irgendeine Idee, wer diese Nachricht ins Internet gestellt haben könnte?«
»Schön wär’s«, murmelte Sebastian.
»Herr McKinley ist deshalb schon bei der Polizei gewesen«, berichtete Lys.
»Ach. Und was sagen die?«
»Wenn wir mal Ihr Telefon benutzen dürften, finden wir es vielleicht heraus«, sagte Lys.
»Ähm… sicher. Ihr könnt das Telefon an der Rezeption nehmen.« Julia winkte. »Oh, entschuldigt mich, da kommen neue Gäste.«
Sebastian und Leo ließen sich auf die Samtsessel gegenüber der Rezeption fallen, während Lys McKinleys Nummer in ihrem Handy aufrief und wählte. Besetzt. Sie drückte die Wahlwiederholungstaste. Wieder das Besetztzeichen. Und wieder. Und wieder. Dann endlich antwortete jemand.
»McKinley?« Die Stimme am anderen Ende der Leitung klang gepresst.
»Hallo, hier ist Lysande Thieler. Ich wollte nur fragen, was die Polizei gesagt hat.«
Langes Schweigen. Dann sagte McKinley: »Es hat sich etwas ereignet.«
»Und was?«
»Gestern Mittag haben wir ein Paket bekommen«, sagte McKinley. »Mit einer CD drin. Es war eine Nachricht drauf. Und ein kleiner Film.« Er schwieg einen Moment, dann fügte er hinzu: »Alison war darauf zu sehen.«
»Wie bitte?«, schrie Lys so laut ins Telefon, dass Sebastian und Leo erschrocken aufsahen und die Putzfrau neugierig um die Ecke lugte.
»Es war eindeutig eine aktuelle Aufnahme«, sagte McKinley. »Alison hatte eine Zeitung in der Hand mit dem Datum von vergangenem Sonntag. Aber das wäre gar nicht
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