Am Sonntag stirbt Alison
vom Boden entfernt. Mit einem Klimmzug, der einen heftigen Schmerz durch ihre verletzte Schulter jagte, zog Lys sich nach oben und zwängte sich hindurch.
»Also, da komme ich nicht durch. Schon gar nicht mit Gips«, hörte sie Sebastian draußen flüstern.
»Ich mache euch die Terrassentür auf.«
»Warte.« Sebastians Gesicht erschien unter dem Fenster.
»Was denn noch?«
»Sei vorsichtig. Bitte. Ich will nicht, dass dir was passiert«, sagte Sebastian.
Lys starrte ihn an. Dann nickte sie und huschte zur Tür.
Der Gang war hell erleuchtet, aber menschenleer. Direkt vor ihr ging eine Treppe nach unten ins Erdgeschoss, das aufgrund der Hanglage des Gebäudes einen Stock tiefer lag. Lys wandte sich nach rechts. Die Tür zum Wohnzimmer stand offen. Lys trat ein und schlich leise zur Terrassentür. Der Öffnungsmechanismus war kompliziert, dreimal klappte sie den Hebel herunter und wieder hinauf, bis es ihr endlich gelang, die Tür aufzuziehen.
Sebastian und Sibel warteten schon auf der Terrasse. »Wo sind die denn alle? Hier ist es still wie in einer Grabkammer«, flüsterte Sibel, als sie sich nach drinnen zwängte.
»Keine Ahnung.«
Sie lauschten einen Moment. Von links schienen murmelnde Stimmen zu kommen. »Kommt«, flüsterte Lys.
Sie traten wieder auf den Gang hinaus und liefen in die Richtung, aus der Lys gekommen war. Im Vorüberlaufen versuchte Lys, sich einzelne Gegenstände und Details zu merken, und überlegte, wie die einzelnen Zimmer angeordnet sein mussten. Alex’ Zimmerfenster war das zweite neben der Terrassentür gewesen, also musste es das Zimmer direkt neben dem Gästebad sein.
Das Gemurmel schien vom Ende des Gangs zu kommen.
Sibels Stiefel klapperten ohrenbetäubend laut auf dem Parkett, als sie über den Gang schlichen. Nach mehreren bösen Blicken von Lys schlüpfte Sibel schließlich heraus und klemmte sie sich unter den Arm.
Vor ihnen stand eine Tür halb offen. Licht drang auf den Gang hinaus. Lys hielt den Atem an, als sie näher schlich und vorsichtig durch den Türspalt spähte.
Es war ein weiteres Schlafzimmer, ein heller, geräumiger Raum mit einem Schreibtisch und einer großzügigen Sitzecke, in der zwei Personen um ein Couchtischchen herumsaßen. Die eine war Julia Sommer. Die andere Alison.
Lys konnte nicht sagen, was sie erwartet hatte. Dass sie Alison an Händen und Füßen gefesselt auffinden würden? Dass sie in einem Kellerverlies festsäße? Aber ganz bestimmt hatte sie nicht erwartet, dass sie in einem Ledersessel lehnte, einen Becher mit Kaffee in der einen, eine Zigarette in der anderen Hand, und mit Julia Sommer wie mit einer guten Freundin plauderte. Alison wirkte zwar nicht besonders entspannt. Ihre Augen zuckten nervös umher wie schon damals in der Hütte und sie sog in heftigen Zügen an ihrer halb abgebrannten Zigarette.
»Jetzt entspann dich mal.« Das war Julia. Auch ihre Stimme klang nervös. »Es ist alles in Ordnung.«
Alison nahm einen Schluck aus ihrer Tasse, Lys sah, wie ihre Hand zitterte. »Und dieser junge Mann?«, fragte sie. »Was ist mit dem?«
Leo, dachte Lys. Wieso nennt sie ihn nicht beim Namen?
»Der ist sicher verwahrt«, sagte Julia.
»Und was wird aus ihm?« Wieder zog Alison an ihrer Zigarette. Wie eine Ertrinkende.
»Mach dir keine Sorgen um den. Sobald er uns nicht mehr gefährlich werden kann, lassen wir ihn gehen.«
»Er war verletzt…«, stieß Alison hervor.
»Er hat sich nur etwas den Kopf gestoßen, das ist doch nicht so schlimm.« Julias beruhigende Worte standen im krassen Gegensatz zu dem Zittern in ihrer Stimme. »Wir bringen ihn in ein Krankenhaus, wenn das hier vorbei ist, versprochen. Alles wird wieder gut. Jetzt trink deinen Kaffee, das wird dir guttun.«
Alison starrte in die Tasse. »Der schmeckt irgendwie komisch«, sagte sie. »Vielleicht ist die Milch sauer.«
Julia ließ ein gekünsteltes Lachen hören. »Das ist die Nervosität«, sagte sie. »Da schmeckt alles komisch, nicht wahr? Jetzt trink schon!«
Alison nickte. Und führte die Tasse zum Mund.
»Nein! Nicht trinken!«, schrie Lys in diesem Moment. »Der Kaffee ist bestimmt vergiftet!«
Die Tasse polterte zu Boden. Kaffee ergoss sich in einem Schwall über den Couchtisch und das Businesskostüm von Julia, die sich davon unberührt in einer fließenden Bewegung zur Tür drehte und eine Pistole aus der Polsterung des Sofas hervorzog.
»Weg hier!« Lys stieß Sibel und Sebastian von der Tür weg und rannte.
»Achtung! Da ist dieses
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