Am Sonntag stirbt Alison
Mädchen!«, kreischte Julia hinter ihr, während ihre Absätze über das Parkett klapperten. Unten flog eine Tür auf, der Wachmann kam die Treppe heraufgestürmt, auch er hatte eine Waffe in der Hand. »Los, zurück zum Wohnzimmer!«, schrie Lys.
Aber genau in diesem Moment flammten im Wohnzimmer die Lichter auf.
Lys überlegte nicht lange. Sie riss die Tür auf, die sich unmittelbar zu ihrer Rechten befand, stieß Sibel und Sebastian hinein und zog die Tür hinter sich zu. Dies war das falsche Zimmer, das wurde ihr schlagartig klar. Statt im Badezimmer waren sie jetzt in einem kleinen Raum, der zum größten Teil durch ein großes Bett eingenommen wurde. Lys schaltete das Licht an und zuckte zusammen, als sie sich Auge in Auge mit Alex Berghäuser wiederfand. Der Kopf des jungen Mannes war in ihre Richtung gedreht und für einen Moment hatte sie das Gefühl, dass er sie anstarrte. Doch dann begriff sie, dass sein Blick ins Leere führte und sich nicht veränderte. Schnell wandte sie sich wieder der Tür zu. In der dummerweise kein Schlüssel steckte.
Lys zerrte einen Sessel herbei und versuchte, die Lehne unter der Klinke zu verkanten. Hinter ihr schrie Sibel auf. »Leo! Da ist Leo!«
Lys warf einen letzten beschwörenden Blick auf den Lehnstuhl und die festgeklemmte Klinke und hastete dann rüber ans Ende des Betts. Leo lag auf dem flauschigen weißen Teppich, der jede Menge dunkle Tropfen und verschmiertes Blut aufwies. Leo war bewusstlos. Er hatte eine Kopfwunde und seine Haare waren blutverklebt. Die Arme hatte man ihm mit Klebeband auf den Rücken gefesselt. »Hat jemand ein Taschenmesser dabei?«, fragte Sebastian.
Sibel warf ihm einen vernichtenden Blick zu und fischte ein Täschchen aus dem Mantel, dem sie eine Nagelfeile entnahm. »Ich will jetzt keinen blöden Spruch hören«, knurrte sie, während sie Leo blitzschnell die Handfesseln durchschnitt.
»Leo! Hörst du mich? Leo, wach auf, wir müssen hier weg!« Lys stürmte zum Fenster, riss es auf, kalte Nachtluft drang in den Raum.
Draußen wurde an der Tür gerüttelt.
»Leo!« Sibel tätschelte Leos Gesicht. Dann wurde sie etwas radikaler und gab ihm eine Ohrfeige. Leo stöhnte und schlug die Augen auf.
Das Rütteln wurde heftiger.
»Steh auf, Leo!« Lys packte Leos rechten Arm, Sibel den linken. Sebastian schob einen Stuhl vor das Fenster. Die Mädchen zerrten an Leos Armen, brachten ihn in eine sitzende Position. »Leo, steh auf, jetzt!« Leos Beine bewegten sich, er machte Anstalten, sich nach oben zu drücken.
In diesem Moment kippte der Lehnstuhl polternd zu Boden und die Tür wurde aufgedrückt. Mit einem Satz war der Wachmann über den Stuhl gesprungen und stand vor Lys, Leo und Sibel, die Pistole im Anschlag. »Stehen bleiben! Keiner bewegt sich!«, bellte er.
Sibel ließ Leos Arm los. Lys und Sebastian machten einen unschlüssigen Schritt rückwärts. Leo sank stöhnend gegen das Bett, in dem Alex Berghäuser lag, dessen starres Gesicht reglos auf die Tür gerichtet war.
Jetzt trat Julia Sommer durch die Tür. Als sie die Situation erfasst hatte, stieß sie ein erleichtertes Seufzen aus und schob die Pistole in ihren Gürtel. Hinter ihr drängte sich ihr Onkel durch die Tür, Herr Berghäuser war kreideweiß im Gesicht. Dahinter kam Alison.
Sie zitterte am ganzen Körper, als sie in den Raum hineintrat und den Lehnstuhl wieder auf die Beine stellte. Leo klammerte sich am Gitter des Krankenhausbettes fest und zog sich mühsam auf die Füße. »Alison«, krächzte er. »Geht es dir gut? Haben sie dir etwas getan?«
Alison sah zu Julia Sommer hinüber. Hilfe suchend. Wie ein Kind, das seine Mutter ansieht, weil es nicht weiß, was es auf eine schwierige Frage antworten soll.
Und plötzlich begriff Lys. Begriff, was dieser sonderbare Blick bedeutete, begriff die Angst, die sie die ganze Zeit seit ihrer Befreiung in Alisons Gesicht gesehen hatte. Es war nicht Angst vor McKinley gewesen und auch nicht Angst vor ihren Entführern. Es war schlichtweg die Angst davor, dass die Wahrheit ans Licht kommen könnte.
Sie war zu spät gekommen, um Alison zu retten. Ganze drei Jahre zu spät.
»Sie ist nicht Alison«, sagte Lys leise.
Leo sah zu ihr hinüber. »Was?«, hauchte er.
Alison presste die Hände vor den Mund. Herr Berghäuser wurde noch eine Spur bleicher. Im Gegensatz zu Julia, deren Gesicht eine tiefe, zornige Röte annahm.
»Aber wer ist sie dann?«, fragte Sibel misstrauisch.
»Christine Saier«, sagte Lys verzweifelt.
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