Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Am Strand

Am Strand

Titel: Am Strand
Autoren: Ian McEwan
Vom Netzwerk:
Suppenteller fallen zu lassen drohte.
    Erschrocken ließ sie Edward los, über dessen muskulösen Rücken Krämpfe zuckten, als er sich mit verblüffter Miene aufbäumte und Stoß um Stoß über sie ergoß, kraftvoll, doch in abnehmender Menge, ihren Nabel füllte, Bauch und Schenkel benetzte und ihr einen Teil der lauwarmen, klebrigen Flüssigkeit bis ans Kinn und auf die Knie spritzte. Es war eine Katastrophe, und sie wußte sofort, daß sie die Schuld trug, daß sie unfähig, dumm und unwissend war. Sie hätte sich nicht einmischen, hätte dem Handbuch nie glauben dürfen. Wäre seine Schlagader geplatzt, hätte es kaum schlimmer sein können. Wie typisch für sie, sich derart selbstherrlich in solch komplizierte Dinge einzumischen; sie hätte doch wissen müssen, daß die Haltung, die sie bei den Proben des Streichquartetts an den Tag legte, hier nun wirklich nicht angebracht war.
    Aber da war noch etwas viel Schlimmeres, etwas, das sich ihrer Kontrolle entzog und Erinnerungen heraufbeschwor, die sie schon lange von sich abgetrennt hatte. Noch vor einer halben Minute war sie stolz darauf gewesen, ihre Gefühle im Griff zu haben und nach außen so ruhig zu wirken, doch jetzt war sie nicht mehr in der Lage, ihren tiefsitzenden Ekel zu unterdrücken, ihr dunkles Grauen davor, von einem anderen Körper mit Flüssigkeit bespritzt, mit Schleim überzogen zu werden. In der Meeresbrise fühlte sich sein Sekret auf ihrer Haut sekundenschnell eiskalt an, und doch schien sie, genau wie sie es geahnt hatte, davon verbrüht zu werden. Nichts in ihrem Wesen hätte den unwillkürlichen Schrei des Abscheus verhindern können. Das Gefühl, wie der Schleim in dicken Rinnsalen über die Haut rann, seine fremdartige, milchige Konsistenz, der aufdringliche Geruch nach Stärke, der die Ausdünstung eines beschämenden, in den muffigen Keller der Erinnerung eingesperrten Geheimnisses heraufbeschwor - sie konnte nicht anders, sie mußte das Zeug einfach loswerden. Kaum wich Edward zurück, drehte sie sich um, ging auf die Knie, zerrte ein Kissen unter dem Überwurf hervor und begann, sich in panischer Hast abzuwischen. Doch noch während sie damit beschäftigt war, wußte sie, wie gräßlich sie sich aufführte, wie ungehörig sie sich benahm und daß es Edwards Elend gewiß noch verschlimmerte, wenn er sah, wie sie verzweifelt versuchte, sich diesen Teil seiner Natur von ihrer Haut zu wischen. Dabei war das gar nicht so einfach. Das Zeug klebte an ihr und verschmierte bloß, verhärtete teilweise bereits zu einer von Sprüngen durchzogenen Glasur. Sie war zwei Wesen zugleich - die Frau, die verzweifelt das Kissen zu Boden warf, und jene andere, die ihr zusah und sie dafür haßte. Sie fand es unerträglich, daß Edward sie nicht aus den Augen ließ, diese unausstehliche, hysterische Frau, die er törichterweise geheiratet hatte. Und sie hätte ihn hassen können für das, was er jetzt von ihr mitbekam und bestimmt nie wieder vergaß. Sie mußte von ihm weg.
    In einem Anfall von Scham und Wut sprang sie vom Bett, während die andere, die sie beobachtende Florence, ihr zwar nicht in Worten, doch in ruhigem Ton mitteilte, daß es so nun mal eben sei, wenn man verrückt wurde. Sie konnte Edward nicht ansehen. Mit jemandem im selben Zimmer zu sein, der sie derart außer sich erlebt hatte, war die reinste Folter. Sie schnappte sich ihre Schuhe, lief durch das Vorzimmer, vorbei an den Überresten ihres Abendessens und auf den Flur hinaus, die Treppe hinunter, durch den Haupteingang, um das Hotel herum und über den moosigen Rasen. Selbst als sie endlich den Strand erreichte, hörte sie nicht auf zu rennen.

Vier
    In dem knappen Jahr zwischen der ersten Begegnung mit Florence an der St. Giles Street und ihrer Hochzeit in der kaum einen Kilometer davon entfernt gelegenen Kirche St. Mary war Edward oft über Nacht zu Gast in der großen viktorianischen Villa abseits der Banbury Road gewesen. Violet Ponting hatte ihm jenen Raum im Dachgeschoß zugewiesen, der in der Familie allgemein nur die »kleine Kammer« genannt wurde, m züchtiger Entfernung vom Zimmer ihrer Tochter, dafür mit Blick auf einen ummauerten, fast hundert Meter langen Garten und das dahinter gelegene College-Gelände - oder waren es die Ländereien eines Altenheims? Er hatte nie herauszufinden versucht, worum es sich nun genau handelte. Die »kleine Kammer« war größer als jedes Schlafzimmer bei ihm zu Hause in Turville Heath, wahrscheinlich sogar größer als das Wohnzimmer
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher