Am Tor Zur Hoelle
gehen viel tiefer. Physische Wunden kann man behandeln, man bekommt sie meist in den Griff. Sie sind sichtbar und werden anerkannt. Die Wunden des Geistes, die Wunden der Psyche â sie sind nicht so klar zu erkennen. Beispielsweise heiÃt es oftmals, Vietnam-Veteranen legten ein asoziales Verhalten an den Tag. Doch es ist kein asoziales Verhalten â es ist einfach so, dass wir nach der Kriegserfahrung nicht mehr in der Lage sind, auf herkömmliche Weise Beziehungen einzugehen. Das ist uns genommen worden.
Doch ich will mich nicht allein auf Vietnam beschränken. Vietnam war ein konkretes Ereignis, der Zweite Weltkrieg war ein konkretes Ereignis, Korea war ein konkretes Ereignis. Missbrauch in der Familie ist ein konkretes Ereignis, auch wenn dieses sich, wie das tragischerweise oft der Fall ist, andauernd wiederholt. All diese Dinge, all dies ist Krieg. Jeder Mensch hat sein eigenes Vietnam. Jede und jeder Einzelne von uns. Auf irgendeiner Ebene, irgendwo erleben wir alle unseren Krieg.
Und jeder von uns kann die Flamme am Ende der Kerze werden. Durch unsere Erfahrung besitzen wir die Fähigkeit, an der Umwandlung der Welt mitzuwirken, die Gewalt, den Hass und die Verzweiflung zu überwinden.
Kapitel 3
Die Glocke der Achtsamkeit
Vor einigen Jahren besuchte ich einen Freund in Paris, und wir fuhren gemeinsam mit der Metro. Es war Abend, und der Zug war sehr voll. Plötzlich spürte ich etwas an meinem Bein und begriff, dass jemand versuchte, seine Hand in meine Hosentasche zu schieben. Instinktiv griff ich nach unten, und mit einer einzigen Bewegung, ohne groà darüber nachzudenken, schnappte ich mir die Hand und riss sie hoch, in der Absicht, dem Mann den Arm zu brechen. Es war eine rein instinktive Reaktion. Doch inmitten der Bewegung hielt ich den Atem an und verharrte. Es geschah im Bruchteil einer Sekunde; ich hielt nicht inne, um darüber nachzusinnen. Ich hielt die Hand fest, sah dem Mann in die Augen und sagte mit lauter Stimme: »He, was fällt dir ein? Was hat deine Hand in meiner Tasche zu suchen? Das geht nicht. Was ist los â brauchst du Hilfe oder was? Kann ich dir helfen? Brauchst du etwas? Wenn du etwas brauchst, dann frag mich.« Der Mann wurde ganz kleinlaut und reumütig; seine Augen wurden groà und sein Gesicht kreidebleich, und am nächsten Bahnhof konnte er gar nicht schnell genug aus dem Zug kommen. AnschlieÃend erzählten mir zwei Leute, dass er sich auch bei ihnen als Taschendieb versucht habe.
Dem Taschendieb den Arm zu brechen wäre keine Lösung gewesen. Es hätte nur noch mehr Leiden erzeugt. Doch wenn sich dieser Vorfall ereignet hätte, kurz nachdem ich aus Vietnam zurückgekehrt war, dann bezweifele ich, dass ich in der Lage gewesen wäre, mich zurückzuhalten. Mein erster Impuls wäre es gewesen, automatisch aus meiner Konditionierung heraus zu handeln, auf Grundlage meiner Ausbildung, so wie ich es den GroÃteil meines Lebens getan habe. Was hatte mich diesmal veranlasst innezuhalten? Als ich die Hand des Mannes hochriss, wurde diese Handlung mitsamt den sie begleitenden Gedankenfetzen, Gefühlen und Wahrnehmungen zu einer Glocke, die ertönte, einer Glocke der Achtsamkeit.
Thich Nhat Hanh hat mich mit der Ãbung der Achtsamkeit bekannt gemacht, und als Lebensprinzip hilft sie mir, des Kreislaufs von Destruktivität und Leiden gewahr zu werden und ihn zu verlassen. Achtsamkeit, mit gröÃerer Bewusstheit leben, ist keine neue Idee â sie existiert seit über zweitausendfünfhundert Jahren. Achtsamkeit zu üben ist kein spezifisch buddhistischer Ansatz, obwohl Achtsamkeit explizit als einer der Achtfachen Pfade genannt wird, jener Werkzeuge, die, wenn angewandt, zum Ende des Leidens führen. Achtsamkeit bringt das Herzstück jedweder spirituellen Unterweisung zum Ausdruck, und das Herzstück aller spirituellen Unterweisung ist Achtsamkeit. Achtsamkeit bedeutet schlicht, völlig im gegenwärtigen Augenblick zu sein, hier, jetzt. Es ist die Erkenntnis, dass es nichts als den gegenwärtigen Augenblick gibt.
Es ist so leicht, sich in der Vergangenheit oder in der Zukunft zu verlieren. Genau das ist mir passiert, als ich mich in meinen Kriegserfahrungen verfangen habe. Ich war in den Erinnerungen gefangen, wie die Mönche auf uns schossen, wie das Baby explodierte, wie ein Dorf zerstört wurde. Ich war in der Angst gefangen, dass sich diese Ereignisse wiederholen würden. Ich
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