Am Ufer der Traeume
Wer weiß, vielleicht komme ich in zehn, zwanzig Jahren mal bei euch vorbei und sage Hallo. Ich liebe dich, Molly! Leb wohl und sei mir bitte nicht böse. Ich hätte mir auch gewünscht, dass wir zusammenbleiben, aber so ist es besser, glaube mir. In großer Liebe, Bryan.«
Molly starrte auf die letzten Zeilen des Briefes, bis sie vor den Tränen verschwanden, die sich in ihren Augen sammelten. Geschockt von den bitteren Worten und wie versteinert von der Erkenntnis, dass Bryan mit diesem Brief aus ihrem Leben verschwand, war sie minutenlang zu keiner Bewegung fähig. Bitte lass es einen bösen Traum sein, betete sie in Gedanken, er liebt mich doch, er schreibt doch selbst, dass er mich liebt, lass ihn nicht gehen!
»Bryan!«, flüsterte sie nach unendlich langer Zeit. »Warum tust du das, Bryan? Du weißt doch, dass ich auch zwanzig Jahre auf dich warten würde!«
Sie wischte sich die Tränen aus den Augen und las den letzten Absatz des Briefes noch einmal, wurde plötzlich wütend, als ihr Worte wie »Ich liebe dich!« und »Leb wohl!« und »Heirate einen anderen!« in die Augen stachen. Sie zerknüllte den Brief und warf ihn gegen die Wand. »Warum tust du das, Bryan? Warum lässt du mich im Stich? Du bist doch sonst immer so schlau! Warum schleichst du dich nicht aus der Stadt und kommst hierher? Du willst gar nicht kommen, stimmt’s? Du hast nur nach einer Ausrede gesucht, mich irgendwie loszuwerden! Ich soll einen anderen heiraten, so ein Blödsinn! Ich fahre doch nicht quer durch das ganze Land, um einen anderen zu heiraten!«
Doch einige Tage später sah sie die Sache schon nüchterner und gestand sich widerstrebend ein, dass er vielleicht sogar recht hatte. Wenn es tatsächlich zehn oder sogar zwanzig Jahre dauerte, bis er sich wieder frei bewegen konnte, war sie viel zu alt zum Heiraten, und wer wusste denn, ob ihre Liebe dann noch genauso aufrichtig und leidenschaftlich sein würde wie in Irland oder New York? Eine kluge Frau würde ihn vergessen und ein neues Leben beginnen.
Sie tat weder das eine noch das andere. Nachdem sie tagelang in ihrem Zimmer geblieben war und kaum etwas gegessen oder getrunken hatte, tat sie so, als hätte sie den Brief gar nicht bekommen, und lebte so weiter wie bisher. Die Leute ließ sie in dem Glauben, sie würde immer noch auf ihren Verlobten warten, und irgendwie tat sie das auch. Als ein weiterer Wagenzug in der Stadt ankam, gehörte sie zu den ersten Neugierigen auf der Plaza und lief erwartungsvoll an den Wagen entlang, in der Hoffnung, ihren geliebten Bryan auf einem Kutschbock zu entdecken. Und als einen Monat später die Postkutsche vor dem Hotel hielt, fragte sie den Kutscher vergeblich nach einem Brief aus New York und riss ihm beinahe ein Exemplar der
New York Times
aus der Hand. Sie entdeckte eine kurze Meldung, die lediglich besagte, dass es noch immer keine Spur von dem gesuchten Bryan Halloran gäbe. Nur ein kleiner Lichtblick, der gleich vom nächsten Satz wieder zunichtegemacht wurde: »Es gilt jedoch als sicher, dass sich der Ire noch immer in der Stadt versteckt hält.«
Inzwischen neigte sich der Sommer dem Ende zu und die teilweise unerträgliche Hitze wich einer angenehmen Wärme, die auch auf die Menschen abzufärben und sie in eine freundliche Stimmung zu versetzen schien. Die Aufmerksamkeit, die man ihr nach dem Artikel im
New Mexican
geschenkt hatte, lies jedoch nach und lediglich einige Männer warfen ihr noch bewundernde Blicke zu, was aber eher an ihrem attraktiven Äußeren lag. Niemand schien sich zu fragen, warum ihr Verlobter so lange auf sich warten ließ. Hier draußen im Westen, so wusste Molly inzwischen, hatte man einen anderen Begriff von Zeit.
Auch um sich abzulenken, beschloss sie, sich ein Pferd zu kaufen. Wenn sie im Westen blieb, und das hatte sie fest vor, musste sie besser reiten können. Es sei denn, sie wollte eine dieser eleganten Ladys werden, die im vornehmen Viertel um den Governor’s Palace wohnten, nur kostbare Kleider trugen und in Kutschen herumfuhren und ihren Lebenssinn darin sahen, in der Begleitung ihres Mannes oder einer Gouvernante über die Plaza zu schlendern, das blasse Gesicht unter einem Sonnenschirm verborgen, und die Ladenbesitzer mit Silbermünzen zu verwöhnen. Das wollte sie auf keinen Fall. Sie sehnte sich nach der Freiheit, die sie in New York vergeblich gesucht hatte und auch in Santa Fe niemals finden würde.
Inzwischen kannte sie sich ein wenig in Santa Fe aus und wusste auch von einem
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