Am Ufer der Traeume
Flucht vor der Polizei? Hatten sie ihn gar schon verhaftet und eingesperrt? Eine Fülle von düsteren Gedanken stürzte auf sie ein und ließen sie sich schuldig fühlen, denn wie konnte sie in diesem Luxus leben und sich amüsieren, während er in New York um sein Leben kämpfte?
Sie hielt mitten in einer Walzerdrehung inne und bat Roy Calhoun, sie zu ihrem Platz zu bringen. »Tut mir furchtbar leid«, eröffnete sie ihrem überraschten Begleiter, »aber ich kann leider nicht bleiben. Mir ist plötzlich ein wenig ... übel. Ich weiß, dass ich Ihnen damit den Abend verderbe und entschuldige mich vielmals, aber würden Sie mich bitte nach Hause bringen?«
Roy Calhoun, der gerade begonnen hatte, sie etwas fester in den Arm zu nehmen und ihr beim Tanzen in die Augen zu blicken, ahnte wohl, was sie tatsächlich dazu brachte, ins Hotel zurückzufahren, und bemühte sich, seine Enttäuschung nicht allzu offen zu zeigen. »Natürlich, Molly, lassen Sie uns gehen.«
Während der Rückfahrt wechselten sie kein einziges Wort und erst, als er ihr vor dem Hotel aus dem Zweispänner half, sagte er: »Viel Glück, Molly!«
Sie küsste ihn auf die Wange. »
Muchas gracias
, Roy.«
28
Roy Calhoun wartete neben der Kutsche, als sie aus dem Hotel kam, und ließ es sich nicht nehmen, sich persönlich von ihr zu verabschieden. »Passen Sie gut auf sich auf, Molly«, sagte er, während der Hoteldiener ihre schwere Reisetasche auf die Gepäckablage wuchtete. »In San Antonio wird es Ihnen gefallen.«
»Das hoffe ich sehr.« Sie hatte ihm gesagt, dass ihr Verlobter geschrieben habe und sie in San Antonio erwartete, eine Notlüge, die ihr tränenreiche Erklärungen ersparte und keine falschen Hoffnungen in ihm nährte. »Vielen Dank für alles, was Sie für mich getan haben, Roy. Und danke auch, dass Sie auf Irish Lady aufpassen. Sobald wir uns eingelebt haben, lasse ich sie holen.«
»Ich werde ihr nur bestes Futter geben«, versprach er. »Und wenn Ihr Verlobter aus irgendeinem Grund ...« Er wusste nicht, wie er sich ausdrücken sollte. »Ich werde immer für Sie da sein, Molly. Sie wissen ja, wo ich wohne ...«
»Danke, Roy.« Sie küsste ihn ein zweites Mal auf die Wange und stieg in die Kutsche. Sie lächelte schwach, als er zum Abschied eine Hand hob, und war froh, als der Kutscher die Pferde antrieb und sie in einer aufwallenden Staubwolke aus der Stadt fuhren. »Vorwärts! Jetzt zeigt mal, was ihr könnt!«, hörte sie ihn rufen. »In Franklin gibt’s frischen Hafer und kühles Wasser!«
Sie folgten dem Santa Fe Trail in die Außenbezirke und fuhren dann am Ufer des Rio Grande entlang nach Süden. Helles Sonnenlicht überflutete die braunen Hügel und spiegelte sich im träge fließenden Wasser des Flusses. Zwischen den Bäumen schimmerten die Lehmwände eines Indianerdorfes hindurch, Pueblos, die von Ackerbau und Viehzucht lebten und schon vor vielen Jahren Frieden mit den Weißen geschlossen hatten. Die weiß getünchte Kirche einer einsamen Missionsstation hob sich gegen den hellblauen Himmel ab.
Molly sah nur wenig von der anmutigen Landschaft. Die Vorhänge der Kutsche waren zugezogen, um den Staub abzuhalten, und wenn sie der Wind zur Seite wehte, wirbelten meist Staub und Dreck vor den Fenstern auf. »Heya, wollt ihr wohl laufen?«, trieb der Kutscher die Pferde an. Neben ihm saß ein bewaffneter Beifahrer, falls sich feindliche Indianer blicken ließen. Die schlecht gefederte Kutsche holperte und ächzte über die unebene Wagenstraße und schlingerte so stark, dass sich Molly mit beiden Händen am ledernen Griff festhalten musste, um nicht gegen den hageren Mann neben ihr zu fallen, einen Vertreter für Unterwäsche, wie sich sehr viel später herausstellte.
Auf den letzten Meilen nach Franklin fuhr die Kutsche ruhiger und Molly entspannte sich ein wenig. Erleichtert schob sie den Vorhang zur Seite. Draußen erstreckte sich die felsige Kakteenwüste bis zum flimmernden Horizont. Meterhohe Saguaros ragten aus dem sandigen Boden. Ein einsamer Raubvogel kreiste am Himmel und ließ sich vom heißen Wind über die Felsen tragen.
Was trieb sie in diese Einsamkeit? War sie tatsächlich nach San Antonio unterwegs, wie sie es Roy Calhoun weisgemacht hatte, wollte sie gar nach New York zurück, um dort nach Bryan zu suchen? Oder war Texas ihr Ziel, das Land ihrer gemeinsamen Träume? Ihr Ticket galt bis San Antonio, der mexikanischen Stadt im Herzen von Texas. Dort endete die Kutschenlinie, doch sie brauchte nur
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