Am Ufer (German Edition)
gesellschaftlichen Lebens auf ein festes Ensemble angewiesen bist, dieselben Schauspieler spielen die unterschiedlichsten Stücke. Heute Othello, morgen Lear, übermorgen Romeo, und notfalls ziehst du am nächsten Tag die Perücke über und bist Lady Macbeth, weil die erste Schauspielerin an Angina erkrankt ist. Du siehst diese Menschen in einer Bar und eine Weile später in einer der anderen zehn oder zwölf, die es im Ort gibt, du begegnest ihnen auf der Straße, sie kommen zur Bestattung der Nachbarn und zum Eintreiben der Stiere, in Arbeitskleidung oder im Sonntagsputz, aber es sind immer dieselben. An jedem Ort und zur jeweiligen Stunde spielen sie eine andere Rolle. Das ist wahr. Aber immer, immer sind es dieselben. Und Francisco wollte mein Mitleid. Er beklagte sich darüber, allein zu sein, als wäre es für mich ein Glück, mit der väterlichen Mumie des Tutanchamun zusammenzuleben, mein Genosse, den ich nun nach Jahren füttern, kleiden und waschen muss, das schadhafteTamagotchi, das weder lacht noch weint und nicht einmal Papa und Mama sagt, wie es noch die billigste Puppe vom Chinesen tut. Er wollte, dass ich Mitleid hatte mit ihm, der mir seit dreißig Jahren die Geschichte erzählt, wie er mit dem Schwarzgeld vom Schwager irgendeines hohen Tiers das Restaurant aufmachte, der mir das Drehbuch der Zeit des Booms erläuterte, in dem er als Akteur mitwirkte, die goldenen Tage der Wirtschaftspolitiker Boyer und Solchaga, glückliche Zeiten, in denen – so der sozialdemokratische Wirtschaftsminister – Spanien das Land Europas war, wo man in der kürzesten Zeit das meiste Geld verdienen konnte. Ich spendete ihm Beifall, obwohl es mich zerfraß, ich weiß nicht, ob aus Wut oder Verachtung oder Neid, jedenfalls stellte ich klar: das europäische Land, in dem DU und deine Freundchen das meiste Geld in der kürzesten Zeit verdienen könnt, denn bei mir in der Schreinerei geht es nur mit Ach und Krach vorwärts, die späten Achtziger waren hier in der Gegend ganz schlimm, die Expo in Sevilla – das größte urbanistische Projekt aller Zeiten in Spanien, fiel er erregt ein – und die Olympiade in Barcelona schluckten die öffentlichen und privaten Gelder und zogen zudem die Touristen ab. Die Arbeiter emigrierten erneut, wie in den Fünfzigern, in Spanien drängte alles in die großen Städte:
Sevilla la maravilla
, das Wunder schlechthin, und Barcelona,
bona si la bossa sona
, dort klingelte es allemal im Geldbeutel. Er hatte bei sich (so sprach er von dem Restaurant: bei mir, die Wendung war damals modern, in Zeitungs interviews sprachen die Köche von ihren Lokalen, als sei es ihr Zuhause: Bei mir isst man, ich habe bei mir, bei uns wird nur) das Salz von Madrid: der Vizepräsident war in eine Wohnung im selben Gebäude gezogen und aß meistens bei ihm zu Abend. Jedweder, der durch mit über ohne die Regierung Geschäfte machen wollte, immer auf Regierungskosten, musste sich im Cristal de Maldón sehen lassen, eine Goldmine, sie haben das gut gemacht. Und dann war da noch diese Gesellschaft, gegründet mit Geldern des Außenhandelsbüros zur Förderung des Exports spanischer Produkte in der ganzen Welt,eine Tarnfirma zur Abschöpfung von Subventionen, die er sich acht oder zehn Jahre lang mit einem Staatssekretär teilte, der seine Frau als Direktorin der Gesellschaft eingesetzt hatte, und dazu kamen noch die Geschäfte mit dem Wein und den kleinen Hotels dank seiner Autorität in der mächtigen Verlagsgruppe. Aber wir sitzen ja in der Bar Castañer, schwatzen über dieses und jenes, um nicht über das Wichtige zu sprechen, und ich trete zur Verteidigung von Tomás an, zur Selbstverteidigung gewissermaßen, aber auch um endlich das Thema abzuschließen:
»Pedrós hat sich seine wirklichen Freunde unter denen gesucht, die er mochte, Leute, mit denen man sich gern in der Bar unterhält, etwas trinkt oder mal irgendwo auf den Putz haut, er hat sich nicht überlegt, ob sie ihm nützen, ob sie ihm in einer schwierigen Lage helfen könnten oder ihn eher in Schwierigkeiten bringen. Das andere, das mit den Politikern, der öffentliche Auftritt, da merkte man doch sehr, dass er da mit der Wurst nach der Speckseite warf. Es ging darum, schneller an Bauaufträge zu kommen. Aber eine solche Naivität in den privaten Freundschaften duldet die moderne Gesellschaft nicht, auch die eigene Position lässt das nicht zu, die anderen sowieso nicht, sie sind misstrauisch, wittern dann gleich ungute, verdächtige Beziehungen,
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