Am Ufer (German Edition)
mir klar, dass mein Lehrer recht hatte, Holz konnte in Größe und Vollendung durchaus mit Stein und Metall konkurrieren. Der Lehrer sagte mir: Wenn du schon mit Holz gearbeitet hast, dann hast du das Schwierigste bereits hinter dir, oder glaubst du etwa nicht, dass Froment sich mit extremen Schwierigkeiten herumzuschlagen hatte? Aber ich kann nur wiederholen, du musst dich mit dem Holz noch mehr als mit dem Stein verstehen, du musst herausbekommen, was es dir bietet, seine besondere Qualität, was es von dir will, wohin es dich lenkt, die Unterschiede in der Materialdichte von einem Millimeter zum anderen; es ist ein wärmeres Material als der Stein, es gibt da eine stärkere Kontinuität zwischen deiner Hand und dem, was du schnitzt, und gerade deshalb sind die Anforderungen an dich manchmal größer, Holz lässt sich nicht betrügen, es will verstanden werden, will, dass du es schützt und pflegst, das, was ein Freund von dir erwartet, wenn du eine Beziehung zu ihm eingehst; ich muss dir aber sagen – der Lehrer hatte sich in Begeisterung geredet –, dem Menschen noch näher und noch bescheidener als das Holz ist das wunderbarste Material: Ich rede vom Ton, er schmiegt sich der Hand an, lässt sich von dir prägen, der Ton ist die Verlängerung deiner selbst, der du schließlich und endlich Erde bist und zur Erde zurückkehrst. Wenn du mit Ton arbeitest, begreifst du das. Du stellst fest, dass du Staub bist und wieder zu Staub wirst. Ein zerbrechliches Wesen, das mit zerbrechlichem Material arbeitet. Und doch zeigen uns die Bücher diese Terrakotten aus Kreta oder jene, die von den Etruskern geformt wurden, und sie sind nach einem Leben von mehreren tausend Jahren immer noch schön und beweisen uns durch ihre bloße Existenz, dass sich dank Intelligenz und Arbeit die Zerbrechlichkeit von Mensch und Ton in Widerstandskraft verwandelt. Stein oder Metall dauern nichtnotwendig länger als Ton. Wenn du ein Objekt aus Ton beendest, hast du das Gefühl, dich von einem Teil deiner selbst zu lösen. Rodin modellierte seine Skulpturen mit den Händen in Ton, das war Rodin, danach kam die Ausführung in Bronze, der Guss, also letzten Endes eine industrielle Kunst.
Zum Unterricht in der Kunst- und Gewerbeschule kamen wir bepackt mit Zeichenblock, Tuschfläschchen, Reißfeder, Nullenzirkel, Zirkel, Winkelmaß und Zeichendreieck. Wir lernten künstlerisches und lineares Zeichnen, wir zeichneten griechische und römische Kapitelle und Säulenfüße (dorisch ionisch korinthisch toskanisch), wir kopierten Blätter aus dem Architekturlehrbuch von Viñola, kopierten den Platz von San Ignazio in Rom, die Kuppel des Pantheon, die griechischen Friese an der Giebelwand, den Aufriss der Tempel in Paestum, die Reliefs von dem Ara Pacis des Augustus. Das alles habe ich gezeichnet, aber nie gesehen, ich bin nie in Rom gewesen, auch nicht im Süden oder im Norden Italiens, ich bin nicht aus Olba herausgekommen, der Wunsch und die Möglichkeit, das alles zu sehen, habe ich an eben dem Tag begraben, als man mich, siebzehnjährig, auf einen Transporter lud und mich an die Front in Teruel schickte, zur Quinta del biberón, das war die Kindereinberufung. Beim ersten Fronturlaub habe ich meine Zeichenblätter zerrissen, meine Hände waren wund und verhornt von Schaufel und Hacke und dem Buddeln der Schützengräben, sie waren von der Kälte verformt, und in meinen Ohren hallte das Donnern der Bomben und Granaten wider, und mich verfolgten die Bilder von gefrorenen Leichen, über die man auf Schritt und Tritt stolperte, und die Schreie der Verwundeten, die ohne Betäubung operiert wurden, und das Wimmern der Sterbenden, die auf Tragen weggeschleppt wurden, ich selbst hätte heulen und schreien mögen, obwohl ich nicht verwundet war und mir kein Bein abgesägt wurde; vor allem aber hätte ich davonlaufen mögen. Ich weinte, als der Transporter, der uns nach dem Urlaub wieder an die Front brachte, die Felder von Olba hinter sich ließ. Die Uniform passte mir besser als meinem Vater, doch ihn sah ich jenesMal nicht, unsere Fronturlaube überschnitten sich nicht, tatsächlich habe ich ihn nie wiedergesehen. Dass ich ihn nicht wiedersehen sollte, das wusste ich damals noch nicht. Manche Nächte, auf dem Feldbett liegend, dachte ich, der Kopf würde mir platzen, ich zitterte, und das kam mehr von der Angst als von der Kälte, und ich musste mir hundert Mal leise das Wort Deserteur vorsagen, um nicht aufzuspringen und davonzulaufen. Die Angst vor den
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