.Am Vorabend der Ewigkeit
Gehirn, ich aber bin Gehirn. Ich sammle Gedanken und Wissen. Auch die anderen Morcheln sind Gehirn. Wir übermitteln unser Wissen denen, die uns tragen.«
»Und ich werde dann klüger sein als andere Menschen?« vergewisserte sich Gren.
»Nie zuvor haben wir einen Menschen gehabt«, gab die Morchel zu, und ihre Worte kamen bereits sicherer. »Wir leben nur im Niemandsland. Du lebtest im Wald. Du bist ein guter Fund ich werde dich sehr mächtig machen. Du wirst überall hingehen können und mich mit dir nehmen.«
Gren gab keine Antwort. Er lag mit dem Rücken gegen den kühlen Stein gelehnt. Die Ruhe tat ihm gut. Endlich begann die Stimme in seinem Gehirn wieder zu sprechen.
»Ich weiß viel über die Menschen. Eine unvorstellbare Zeitspanne ist vergangen, seit die Menschen die Herren dieses Planeten waren. Damals waren sie fünfmal so groß wie du heute. Ihr habt euch den neuen Bedingungen angepaßt. Ihr wurdet kleiner. Wir aber sind größer geworden. Heute lebt ihr im Wald oder in Hohlen, und wir könnten euch verzehren, wenn wir das wollten.«
»Woher kannst du das alles wissen, wenn du niemals einem Menschen begegnet bist, Morchel?«
»Ich studiere die Struktur deines Gehirns und deiner unbewußten Erinnerungen. Das Wissen über die Vergangenheit ist bei dir vorhanden, aber du hast es nie gefunden. Eine Generationen-Erinnerung. Ich kann bis zu ihr vordringen und so die Geschichte deiner Rasse bis in die Anfangszeit zurückverfolgen. Es war eine große Rasse, aber heute könnte die meine genauso groß sein.«
Gren verspürte Müdigkeit, und plötzlich war er eingeschlafen. Es war ein tiefer und bodenloser Schlaf, voll seltsamer Träume die wie Fische waren, die er vergeblich am Schwanz zu erhaschen trachtete. Er vergaß sie.
Dann weckte ihn ein Geräusch.
Er fuhr auf und sah wenige Meter entfernt Poyly in der ewigen Sonne stehen. Sie erkannte ihn und lief auf ihn zu.
»Gren – ich bin dir gefolgt. Ich will deine Frau sein.«
Gren sprang auf. Während des Schlafes war ihm vieles klargeworden. Er wußte mehr, als er je zuvor gewußt hatte. Er schritt Poyly entgegen.
Aber das Mädchen war stehengeblieben und betrachtete voller Abscheu das Gewächs auf seinem Kopf. Es kam aus seinen Haaren und legte sich wie ein Kragen um seinen Nacken. Dunkel waren die Zellenmuster zu erkennen, und sie schienen leicht zu pulsieren.
»Gren! Der Pilz – das Gewächs!«
Er nahm ihre Hand, obwohl sie vor ihm zurückwich.
»Schon in Ordnung, Poyly, kein Grund zur Aufregung. Die Morchel wird uns helfen und unser Freund sein.«
Zuerst begriff sie nicht, aber Gren erklärte es ihr. Er zog sie in den Schatten des Felsens und ließ sich mit ihr im warmen Sand nieder.
»Die Morchel lehrt uns die vergessenen Dinge unserer Rasse«, schloß er. »Wir sind klüger und fähiger, als wir jemals glaubten. Heute noch sind wir arm und hilflos, warum sollten wir nicht mächtiger werden, wenn wir dazu befähigt sind?«
»Wie ist das nur möglich?« Poyly begriff nur schwer.
»Ihr werdet beide sein wie Götter«, sagte die Morchel durch Grens Mund.
Poyly gab sich zufrieden, und sie vergaß alle ihre Fragen und Sorgen, als Gren sie einfach in die Arme nahm.
Sie war jetzt seine Frau, seine einzige Frau.
Und er war ein Mann, kein Kind mehr.
Später, als sie aufstanden, lächelten sie sich an. Gren sagte:
»Unsere Seelen – sie liegen im Sand.«
»Laß sie liegen, wir brauchen sie nicht mehr. Aberglaube.«
Sie küßten sich, und die Morchel auf seinem Kopf schimmerte im Glanz der nie verlöschenden Sonne.
»Toy und die anderen haben uns den Weg zum Wald gebrannt, Gren. Sieh nur, ein breiter Weg ist es geworden. Folgen wir der Gruppe.«
Eine Rauchwolke stand über dem Todesdickicht und trieb allmählich auf den Wald zu. Der Boden war schwarz, aber frei von Pflanzen.
Hand in Hand wanderten die beiden Menschen aus dem Niemandsland hinaus.
11
Kleine Lebewesen huschten durch die Zweige und das grüne Laubwerk. Sie kamen und gingen, ohne eine Spur zu hinterlassen.
Zwei große Fruchtschalen kletterten am Stamm durch die mittleren Schichten des Baumes. Aus einem schmalen Spalt blickten zwei Augenpaare mißtrauisch in das grüne Dämmerlicht. Das Ende des Stammes war nicht abzusehen. Oben verschwand er in den Wipfeln, unten verlor er sich im Dickicht der Bodenzone. Die Rinde war rauh und voller Risse. Die Finger und Zehen, die aus den Fruchtschalen hervorragten, fanden genügend Halt für den Abstieg.
Für den Abstieg zum Boden
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