Amanda Jaffe 01 - Die Hand des Dr Cardoni
lag zusammengesunken neben dem Kühlschrank an der Wand. Tony stand mit der Pistole in der Hand über ihm. Amanda öffnete die Tür. Der Geruch von Schießpulver hing in der Luft. Tony richtete, die Augen vor Schreck weit aufgerissen, die Waffe auf sie.
»Ich bin's«, schrie Amanda und streckte die Hände nach ihm aus.
»Mein Gott!« Tony ließ die Waffe sinken. »Ich habe dir doch gesagt, du sollst im Auto bleiben.«
»Ich habe die Neun-eins-eins angerufen, aber ich wollte nicht allein bleiben.«
»Es hätte dumm ausgehen können.«
Plötzlich fiel Amanda der erste Schuss wieder ein. »Bist du in Ordnung?«
Tony nickte.
»Was ist passiert?«
»Er hat versucht, mich umzubringen«, sagte Tony und deutete zu einem Loch etwa in Kopfhöhe in der Wand neben der Hintertür. »Er war in der Küche. Er feuerte, als ich durch die Tür kam.« Tony schüttelte den Kopf. Er wirkte benommen. »Ich habe ihn erschossen.«
Amanda kniete sich neben Cardoni. Unweit seiner Hand lag ein Revolver, auf seinem Hemd breitete sich Blut aus. Cardonis Augen waren geschlossen, der Kopf war zur Seite gekippt. Er lebte, es schien ihm aber sehr schlecht zu gehen. Tony zog ein Taschentuch aus der Hose und hob damit den Revolver auf. Amanda sah ihn fragend an.
»Cardonis Fingerabdrücke sind auf der Waffe. Ich will nicht, dass die Polizei denkt, ich hätte ihn kaltblütig erschossen.«
Amanda fiel plötzlich wieder ein, warum sie mitten in der Nacht zu diesem Haus gefahren waren. Sie nahm Tonys Hand.
»Das ist okay. Es war Notwehr. Aber jetzt müssen wir nach Justine sehen!«
Amanda öffnete die Tür, die ins Wohnzimmer führte. Während sie nach dem Lichtschalter tastete, erkannte sie eine Silhouette vor dem verdunkelten Fenster, und der rostähnliche Geruch von Blut stieg ihr in die Nase.
Sie gab die Suche nach dem Lichtschalter auf und durchquerte das Zimmer. Im Näherkommen sah sie, dass Justines Arme und Beine mit Klebeband so an den Stuhl gefesselt waren, dass ihr nackter Körper völlig schutzlos preisgegeben war.
»Justine«, flüsterte Amanda mit zitternder Stimme.
Der Kopf der Ärztin war nach vorne gefallen, das Kinn ruhte auf der Brust. Auf einem Beistelltisch neben dem Stuhl stand eine Lampe. Als Amanda sie anschaltete, bemerkte sie ein blutverschmiertes Jagdmesser neben dem Lampensockel.
Schwaches gelbes Licht erhellte das Zimmer. Amanda stand mit dem Rücken zu Justine, und sie musste ihren ganzen Mut zusammennehmen, um sich umzudrehen. Ein Schluchzen stieg ihr in die Kehle, ihr Magen verkrampfte sich. Sie wollte sich abwenden, aber sie hatte ihren Körper nicht mehr unter Kontrolle und konnte nur noch voller Grauen das anstarren, was einmal eine sehr schöne Frau gewesen war.
Tony kniete sich neben Justine und suchte nach einem Puls. Dann drehte er sich mit traurigem Blick zu Amanda um und schüttelte den Kopf.
58
Sie warteten in der Küche auf den Krankenwagen und die Streifenwagen, die nach Amandas Notruf losgeschickt worden waren. Während Tony sich um Cardoni kümmerte, rief Amanda im Morddezernat an. Sean McCarthy traf kurz nach dem Sanka und dem ersten Streifenwagen ein. Während die Sanitäter Cardoni auf eine Bahre legten, führte McCarthy das Paar in das Arbeitszimmer, in dem Amanda vier Jahre zuvor das Video mit Mary Sandowskis Folterung gesehen hatte. Fernseher und Videorecorder waren immer noch da. Amanda konnte sich nicht überwinden, die Geräte anzuschauen.
Da McCarthy merkte, dass Amanda und Tony sehr mitgenommen waren, verlegte er ihre Befragung auf den nächsten Morgen ins Justice Center. Frank Jaffe traf kurz nach der Polizei ein. Er bestand darauf, dass Amanda in ihrem alten Zimmer übernachtete, und bot auch Tony an, ihn für die Nacht aufzunehmen.
Um drei Uhr war Amanda im Bett. Zum ersten Mal seit ihrer Kindheit schlief sie bei Licht. Die Bilder des Grauens, die sie eben gesehen hatte, und ihr schlechtes Gewissen, weil sie Justine verdächtigt hatte, quälten sie, sobald sie die Augen schloss. Als sie dann endlich einschlief, fand sie sich in einem pechschwarzen Raum wieder. Sie versuchte, sich aufzusetzen, aber ihr Körper war mit Lederbändern gefesselt. Während sie sich zu befreien versuchte, ging eine Tür auf und ein helles, blendendes Licht fiel herein. Als ihre Augen sich an die Helligkeit gewöhnt hatten, sah sie, dass sie auf einen Operationstisch gefesselt war.
»Wer ist da?«, rief sie, und ihr Herz pochte schneller.
Ein nackte Glühbirne hing über ihrem Kopf von der Decke.
Weitere Kostenlose Bücher