Amanda Jaffe 01 - Die Hand des Dr Cardoni
auf dem Beth-Israel-Friedhof erzählt hatte. Es war furchtbar kalt an diesem Nachmittag, aber Amanda bemerkte weder den rauen Wind noch den bedrohlich grauen Himmel, so konzentriert war sie auf das Grab von Samantha Jaffe, geboren am dritten September 1953, gestorben am zehnten März 1974. Der Grabstein war nur klein, da Frank sich, als er ihn kaufte, noch keinen Luxus leisten konnte. Das Grab lag unter den schwankenden, nackten Ästen eines uralten Ahorns, das dritte links von einer schmalen Straße, die sich durch den Friedhof schlängelte. Frank hatte den Stein traurig angestarrt. Dann hatte er zu seiner kleinen Tochter hinuntergesehen. Amanda verkörperte für ihn all das Gute in dieser Welt und den Grund, warum er sich nicht unterkriegen ließ. Damals, mit Mitte zwanzig, war Frank groß und stark gewesen, aber ein allein erziehender Vater, der den ganzen Tag arbeitete und sich jeden Abend mit seinem Jurastudium abplagte, brauchte mehr als Kraft und Jugend, um nicht unter der Last zusammenzubrechen.
»Du wurdest am zehnten März geboren«, hatte Frank gesagt, »zufällig am gleichen Tag wie heute, um acht Minuten nach drei Uhr am Nachmittag, ungefähr zur gleichen Zeit wie jetzt, im Jahr 1974.«
»Acht Minuten nach drei Uhr nachmittags?«
»Punkt drei Uhr acht«, bestätigte Frank. »Deine Mutter lag in einem breiten Bett aufweichen, weißen Laken ...«
»Wie hat sie ausgesehen?«
»Sie lächelte ein wunderbares Lächeln, weil sie wusste, dass du gleich auf die Welt kommen würdest, und dieses Lächeln ließ sie aussehen wie ein Engel - wie der schönste aller Engel. Außer dass sie natürlich noch keine Flügel hatte.«
»Hat sie Flügel bekommen?«
»Natürlich. Das gehörte zu der Abmachung, aber der Engel und deine Mutter haben diese Abmachung nicht sofort getroffen, und deshalb musste deine Mutter auf ihre Flügel warten.«
»Wann ist der Engel gekommen?«
»Er erschien im Krankenhaus im Zimmer deiner Mutter, kurz bevor du geboren wurdest. Normalerweise sind Engel ja unsichtbar, aber deine Mutter konnte diesen Engel sehen.«
»Nur meine Mutter?«
»Nur deine Mutter. Und nur deshalb, weil sie selber so wie ein Engel war.«
»Was hat der Engel gesagt?«
» Samantha , sagte er mit einer Stimme, die klang wie fallender Regen, Gott ist sehr einsam im Himmel und will, dass du ihn besuchst - Danke Gott in meinem Namen , sagte deine Mutter, aber ich bin gerade dabei, ein wundervolles Baby auf die Welt zu bringen, und deshalb muss ich bei ihm bleiben. - Gott wird sehr traurig sein, wenn er das hört , erwiderte der Engel. Da kann man nichts machen , sagte deine Mutter. Mein kleines Mädchen ist das kostbarste kleine Mädchen auf der Welt, und ich liebe es sehr. Ich wäre sehr traurig, wenn ich nicht immer bei ihm sein könnte. «
»Was ist dann passiert?«
»Der Engel flog in den Himmel zurück und erzählte Gott, was deine Mutter gesagt hatte. Wie du dir vorstellen kannst, war Gott sehr traurig. Er hat sogar ein paar Tränen geweint. Aber Gott ist sehr klug, und er hatte eine Idee und schickte den Engel noch einmal auf die Erde.«
»Hat der Engel Mama Gottes Idee erzählt?«
»Aber natürlich. Würdest du in den Himmel kommen und Gott besuchen, wenn du immer bei deinem kleinen Mädchen sein könntest?<, fragte er. Natürlich , antwortete deine Mutter. Sie war ein wunderbarer Mensch und konnte nie einen anderen traurig sehen. Gott hat eine Idee , sagte der Engel zu deiner Mutter. Wenn du jetzt gleich mit mir kommst, wird Gott deine Seele in dein kleines Mädchen legen, gleich neben ihr Herz. Dann kannst du immer bei ihr sein. Das ist dann sogar noch besser als die Art, wie andere Mütter bei ihren Kindern sind. Du wirst bei ihr sein, wohin sie auch geht, auch wenn sie in der Schule ist oder auf dem Spielplatz oder auf einem Ausflug. - Wie wunderbar , sagte Samantha und schüttelte dem Engel die Hand, um die Abmachung zu besiegeln.«
»Was ist dann passiert?«
»Etwas ganz Wundersames. Wie du weißt, kommt man erst in den Himmel, wenn man stirbt, und so starb deine Mutter, aber sie starb erst, als du deinen Mund aufgemacht und zum ersten Mal Atem geholt hast. Als dein Mund ganz weit offen war, ist die Seele von Samantha Jaffe hineingesprungen und hat sich direkt neben dein Herz gesetzt.«
»Und da ist sie auch heute noch?«
»Da ist sie jede Minute jedes Tages«, hatte Frank geantwortet und Amanda sanft die Hand gedrückt.
Amanda erinnerte sich an die Geschichte ihrer wundersamen Geburt jedes
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