Amarilis (German Edition)
»Weißt du, die haben Häuser, die du nicht sehen
kannst und Straßen, die gar nicht da sind.«
Überschwänglich berichtete er ihr dabei von den unsichtbaren
Wänden der Häuser, aus denen plötzlich Leute kamen, ohne sie vorher wahrzunehmen.
»Sie gehen einfach um eine Ecke, die du nicht siehst, auf dich zu und bleiben
drei Meter über dir in der Luft stehen.« Er versuchte, es ihr halbwegs zu
erklären. Gebannt hörte sie ihm zu. Vorzustellen vermochte sie sich die Schilderungen
jedoch kaum.
Dann erzählte er ihr von Mata-Hele, der sie unbedingt
kennenlernen wollte. Er erwähnte die Freundschaft zwischen ihnen, die ihm eine
tiefere Einsicht in die Eigenarten und Kultur der Santoganer gegeben hatte. Er
berichtete dabei von der zunächst befremdenden, unterkühlten Art der anderen,
aber auch, wie sich im Innersten ihrer Retina das blaue Meer ihrer Gefühle
öffnen konnte, zu leuchten begann und in die Tiefe ihres Horizontes blicken
ließ.
»Ihre Gesichter haben scheinbar keine Mimik, dadurch wirken
sie auf uns kalt«, sagte er. »Aber wenn sie dich einmal in ihr Inneres gesehen
lassen haben, dann fühlst du die Wärme ihrer Wünsche und ihres Lebenswillen.
Weißt du, die Augen sind ihre Seele.«
Meika hörte ihm schweigend zu. Sie wollte in diesem
Augenblick keine unliebsamen Themen heraufbeschwören. Aber Steff bemerkte
trotzdem ihren Missmut. Darum sagte er:
»Ich habe mit Mata darüber gesprochen. Über euch Frauen, über
uns Menschen. Er scheint zu begreifen. Ich bin völlig sicher, dass er den anfänglichen
Irrtum seiner Rasse erkannt hat.« Steff nahm Meika bei der Hand. »Er hat mir
erklärt, warum sie so von euch denken. Eigentlich genau das, was wir uns selbst
dachten.« Er hob eindringlich die Hände. »Die Zweideutigkeit unserer Gesellschaft.
Die Falschheit der bürgerlichen Moral. Für sie ist bei ihrer unumwobenen
Direktheit so etwas unmöglich. Sie kennen ja kaum die Lüge! Entweder zeigen sie
ihre Gefühle, oder sie verschließen sich. Aber sie würden einen nie täuschen in
dem, was sie offenbaren.«
Er hielt einen Augenblick inne. Meika nickte nachdenklich.
Aufmerksam goss er ihr neuen Saft ein. Dann fuhr er stürmisch fort: »Wobei sich
allerdings auch bei ihnen eine Entwicklung anbahnt, die sie selbst noch nicht
überschauen können. Auch unter ihnen gibt es mittlerweile welche, die die
Unwahrheit angeben des eigenen Vorteils wegen vorziehen, die integrieren,
falsches Spiel treiben und sogar vor Mord nicht zurückschrecken. Diese Veränderung
scheint zugleich mit ihrer Evolutionskrise entstanden zu sein.«
Steff hielt mit Kauen inne und schaute Meika an. »Du weißt ja
von der Auffüllungsschwierigkeit ihrer Gittergeraden. Dadurch sterben sie
nicht, und es entwickelt sich eine Individualität, die sie für die Veränderung
ihres Charakters verantwortlich machen.« Er ließ ein Grinsen andeutungsweise
über sein Gesicht ziehen. »Sie haben plötzlich auch Angst, speziell davor, so
zu werden wie wir Menschen.«
Meika sah ihn fragend an. »Aber was hat das mit uns Frauen zu
tun?«
»Das ist einfach und schwer zugleich.« Steff biss sich auf
die Unterlippe. »Einerseits sind sie verwirrt wegen unserer doppelten Moral,
andererseits stehen sie einem Entwicklungszweig gegenüber, der sie ihres kollektiven
Gleichheitssinnes beraubt. Verstehst du, sie haben Angst vor einer Zukunft, die
sie menschenähnlich werden lassen könnte. Und ihr Frauen seid für sie unbewusst
das Symbol einer individuellen, aber zugleich auch einer trennenden Lebensart.«
»Aber dadurch verfallen sie ja in die gleiche Neurose«,
erregte sich Meika. »Sie wollen etwas nicht wahrhaben, was doch überall ist.«
Steff konnte nun ein Grinsen nicht mehr unterdrücken. »Der
beste Beweis, dass sie bereits menschlich werden. Genau das hat auch der Rat
festgestellt und darauf erkannt, dass ihr Frauen den Status eines gleichberechtigten
Partners erhalten sollt.«
Meika überlegte. »Wieso haben sie es sich eigentlich so
plötzlich anders überlegt?«
»Sie scheinen wirklich immer besser bei uns Menschen
durchzublicken. Hinzu kommt aber auch etwas noch völlig anderes: Sie nehmen
sich vor dem kosmischen Zusammenhalt in Acht.«
»Was heißt denn das nun wieder?« Meika starrte ihn offenen
Mundes an.
»Das, was sie anderen zufügen, wird irgendwann wieder auf sie
zurückkommen. Der Kreislauf des Kosmos. In ihm ist alles in Verbindung. Umgehend
und
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