Amarilis (German Edition)
gelblichen Zähne. Wieder einmal wurde ohne ihn an der Front
gekämpft. Und je mehr dabei fielen, desto weniger brauchte er am Schluss
teilen.
Die Terrasse des Restaurants bildete einen Ausläufer fünf Meter
über der Straße. An ihrer Seite zog sich eine etwa einen halben Meter hohe
Brüstung hoch, die mit wild wachsendem Efeu behangen war, das mit seinen langen
Ranken an den Säulen der Straßenseite fast bis zum Boden hinunter kletterte.
Der Rollweg des Kudamms floss träge darunter hinweg und war in diesen frühen Morgenstunden
noch wenig belebt. Nur vereinzelt saßen an den Tischen und auf den
aufgeschraubten Stühlen Passanten, die eine Einkaufstasche bei sich trugen oder
eine Aktenmappe unter dem Arm hielten, um in die Läden oder ihre Büros zu
kommen.
Die Luft war noch kühl und feucht, deshalb zog Steff den Reißverschluss
an den Ärmeln seiner gelben Baumwolljacke wieder zu. Unter ihm belebte sich der
Verkehr zusehends, und er konnte auch das leise Gebrumm der Lieferwagen
ausmachen, die einige der wenigen Fahrzeuge waren, die noch für den
Bodenkontakt zugelassen wurden. Die dreißiger Jahre des 21. Jahrhunderts waren
das Jahrzehnt des Übergrundverkehrs geworden, denn sie hatten eine Revolution
neuer Techniken gebracht, die nur mit der Erfindung des Autos vor jetzt 200
Jahren zu vergleichen war. Der Mensch hatte sich in die Luft erhoben und das
einstige Massenprodukt beinahe zum Tode verurteilt. Doch hatte er der Umwelt
und damit sich selbst einen Riesendienst erwiesen, denn nun blieben die Straßen
frei von Unfällen, Abgasen und Staus. In der Luft war einfach mehr Platz.
Steff mußte mit einem gemischten Gefühl romantischer Erinnerung
und Unverständnis daran denken, wie die Minister in alten Aufzeichnungen beim
SALT XI 2010 ihre Autos noch bestiegen hatten: die waren so flach, dass sie nur
hinein kamen, indem sie Dach - und Seitenteil wie Flügel aufklappten. Um sich
dann auf der Fahrbahn einzuordnen, mussten sie erst ein umständliches Wendemanöver
auf dem Zubringersteig ausüben, der sich oberhalb der Fußgängerzone befand. Die
Autos von damals besaßen zwar schon einen direkten Drehmoment um die
Längsachse, hatten aber noch nicht einmal unter dem Chassis einfahrbare Front-
und Heckteile. Die Erfindung der in der Höhe verstellbaren Achsen sollte erst
zehn Jahre später kommen. Und wenn er daran dachte, dass die Autos sich dann in
Reih und Glied auf der vierspurigen Fahrbahn einordnen mussten, konnte er nur
den Kopf schütteln. Schließlich spielte sich das alles noch auf einer Ebene ab!
Es war unfassbar. Er hob den Kopf. Plötzlich roch es geradezu
nach zu Luft gewordener Erde. ‚Dieses Regenwurmaroma’, dachte Steff, ‚bei dem
sich sogleich die Vision eines löchrigen Humushaufens aufzwängt, kenn ich
doch.’ Er guckte auf. Endlich war Meika da.
Sie trug samtbeige Jeans, die von einem zehn Zentimeter
breiten Träger gehalten wurden. Dieser teilte sich unmittelbar über ihrer
Brust, wand sich um ihren Hals und schloss sich wieder auf dem Rücken zu einer
Strippe zusammen. Zwei weitere Ausläufer auf den Schultern endeten in kleinen, gelben
Schlingen, durch die sie ihre Arme gesteckt hatte.
Sie grinste. Dabei kräuselte sich ihre Stirn einwenig, so dass
sich ihr struppiger Haaransatz leicht vorwärts neigte. »Weißt du, was der Senatssprecher
heute Morgen im Nachrichtentelex veröffentlicht hat? Es wird irgendwo ein
riesiges Kur- und Erholungszentrum für deutsche Urlauber geplant, vor allem für
einkommensschwache und kinderreiche Familien. Du, glaubst du das?«
Sie gab ihm erst jetzt einen Begrüßungskuss. Steff schielte
dabei kurz auf ihren wippenden Busen und sah dort einen Button, der Posikol
nackt mit kanaldeckelgroßen, offenen Händen, riesigem Kopf und langen Beinen darstellte.
Nur bei einer Gliedmaße zeigte die Abbildung einen scham-verdeckenden Balken,
der jedoch so klein bemessen war, dass er sich auch erübrigt hätte.
»Na, jedenfalls scheinst du ihm so viel Potenz nicht zuzutrauen.«
»Dem trau ich keinen Zentimeter. Swimmingpool und Vergnügungsviertel
zur individuellen Freizeitgestaltung, läßt er schreiben. Mensch, die persönliche
Freiheit ist bei dem doch total unter Kontrolle.« Meika war echt empört. »Dabei
steht noch nicht mal der Standort richtig fest. Lieber soll er mir von dem Geld
'n paar Subventionen für meinen Biohof rüberreichen!«
Die zwei, drei Leute, die auch auf der Terrasse
Weitere Kostenlose Bücher