Amarilis (German Edition)
sechkalibrigen Karabiner anlegte und durch das Zielfernrohr
blickte. Er konnte auch nicht erkennen, wie dieser auf ihn zielte, wobei sich
sein Zeigefinger langsam zusammenzog. Und er konnte nicht hören, wie sich
daraufhin ein Schuss löste, da dieser von einem armdicken Schalldämpfer verschluckt
wurde. Aber dann konnte er sehen, wie plötzlich und aus heiterem Himmel jemand
aus dem Ahorn fiel, mit einem Karabiner in der Hand und einem faustgroßen Loch
in der Brust. Und er konnte fühlen, wie sich jedes einzelne seiner Haare gegen
den Stoff seiner Kleidung aufrichtete. Nur wenig später gaben seine Knie nach.
Enttäuscht drehte sich Meika wieder um. Sie hatte gehofft, Steff
in seiner Wohnung vorzufinden. Deshalb war sie an diesem Morgen schon früh
aufgestanden, um ihn zu überraschen. Es sollte ihr letzter gemeinsamer Tag vor
seiner Abreise sein. Sie hatte eine Freundin angerufen, die die Geschäfte auf
ihrem Hof übernahm. Die bevorstehende Trennung hatte sie hilflos und traurig
gemacht.
Doch wo war er bloß? Verwundert schaute sie sich ein letztes
Mal um, um Anzeichen einer Erklärung seiner Abwesenheit zu finden.
Zögernd klappte sie die Tür hinter sich zu und steckte den
Zweitschlüssel in ihre Tasche zurück. Sie wollte in dem kleinen Café auf der Etage
einen Espresso trinken und dort auf ihn warten.
Die Scheibe vor dem Lokal war inzwischen erneuert worden.
Aber noch immer hing das Plakat, das den Bürgermeister als eine gettobauende
Marionette zeigte, neben der Tür. Innerlich nickend ging sie hinein.
Diese Art von kleinen Restaurants war typisch für Kreuzberg.
In fast jedem Haus auf irgendeinem Stockwerk gab es ein derartiges Café. Es wurde
vorwiegend von jungen Menschen betrieben, die ansonsten wenig Aussicht auf
einen Verdienst hatten und hierin eine letzte Existenzmöglichkeit sahen. Die
20%-ige Arbeitslosigkeit, das Ausweichen der Wohngegend in isolierte Randzonen
und die Technisierung der Berufswelt hatte außerdem die meisten von der
Entwicklung eigener Vorstellungen und Ziele abgehalten.
Die einzelnen Hochhäuser bestanden in der Regel aus 20
Stockwerken und mehr und beherbergten 200 Familien oder ca. 1000 Menschen jedes
Alters. In den häufigsten Fällen wohnten dort unverheiratete Leute, die Hausgemeinschaften
bildeten, denn die Ehe war nicht mehr institutionalisiert. Diese Art der
Gruppeneinrichtung wurde vom Wohnungsbauförder- und Kindergemeinschaftsprogramm
(wobafö und kigepro) sogar finanziell unterstützt, da dadurch der einzelne
Quadratmeter einer Wohnfläche wirtschaftlicher genutzt und die Kinder im Aufbaualter
enger zusammengezogen werden konnten.
‚Da ist Steff wirklich eine Ausnahme mit seiner kleinen
Einzelwohnung’, dachte Meika. ‚Aber er kann es sich leisten, während andere
enger zusammenrücken müssen beziehungsweise gezwungen sind, ihre Wohnfläche wirtschaftlicher
zu nutzen.’
Die teuren Mieten in den inneren Stadtgebieten waren nur für
Büros und Läden erschwinglich, der einfache Mensch wurde in von wenigen Naherholungsgebieten
durchzogene Wohngettos abgedrängt. ‚Wo er möglichst auch zu bleiben hat’, ging
es ihr bitter durch den Sinn. ‚Durch die zusätzlich eingerichteten Freizeit-
und Vergnügungsetagen kommt er doch kaum noch auf die Straße runter.’
Sie schlürfte an ihrem Kaffee. Auch hier in der Kneipe gab es
Videoautomaten und Computerspiele, an denen mehrere Jugendliche herumstanden.
‚Sobald die ihrem Elternhaus entwachsen sind, erfahren sie eine Bestätigung
ihrer Leistungen ausschließlich über diese Idiotenspiele.’ Meika beobachtete
einen etwa 16-Jährigen, der in sichtlich rituellen Beschwörungen auf einen Spielautomaten
einsprach.
In der Tat bezogen die Jugendlichen ihre Ansichten und
Interessen nur noch voneinander. Alle wesentlichen Orientierungsmerkmale wurden
in den unwirklichen Strukturen der Hausgruppe gefunden, differenzierte Rollen
und Entscheidungsträger nicht mehr kennengelernt. Eigene Verhaltensrituale
höhlten sich immer stärker aus, je mehr die nur selten von außen herangebrachten
Werte ihre Berührungspunkte verloren. Die somit eigendynamisch erwachsene Norm
ließ jedoch mitunter Auswüchse entstehen, die auf das entsetzlichste zu
deprivatierten Mustern geraten konnten.
Der Junge, der die ganze Zeit auf den Spielautomaten
eingeredet hatte, wandte sich nun davon ab und suchte sich einen freien Platz
an den Tischen. Er kam Meika bekannt vor, und jetzt
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