Amber Rain
Bereich der Halle ist eine Flucht versteckter Türen. Eine davon öffnet George für mich. Ich trete ein. Der Raum ist nicht das, was ich erwartet habe. Ein Ruheraum, hat George gesagt, auf mich wirkt es eher wie ein Büro. Ein Schreibtisch steht darin und Regale voller Aktenordner.
Crispin sitzt auf einem alten Kordsofa. In seinen Armen, auf seinem Schoß liegt eine in eine Decke gehüllte junge Frau. Doch nicht ihre Nacktheit ist es, die mich schockiert einatmen lässt, sondern ihr Gesicht. Ihre Nase ist stark geschwollen und leuchtend violett. Ein getrocknetes Rinnsal Blut klebt über i h rer Lippe. Die Oberlippe ist grotesk geschwollen und auf ihren Jochbeinen prangen riesige, aufgedunsene Hämatome. Crispin streicht ihr die blutverklebten Haare aus dem Gesicht und murmelt etwas in ihr Ohr. Deshalb ist auch sie es, die mich als erstes bemerkt. Die Imitation eines Lächelns verzerrt ihre g e schwollene Oberlippe.
„Du musst Amber sein. Komm doch rein.“ Sie näselt so stark, dass es schwer ist, sie zu verstehen. Zögernd trete ich ein. Gleichzeitig versucht sie, sich aus Crispins Umarmung zu winden. Für mich? Weil sie denkt, mir würde der Anblick we h tun, sie in dieser innigen Situation mit ihm zu sehen? Die Freundlichkeit dieser Geste rührt etwas tief in mir an. Ich m a che drei große Schritte auf das Sofa zu und setzte mich auf die Kante.
„Nein, bleib liegen. Ist schon in Ordnung.“ Ich drücke auf ihre Schulter und schiebe sie zurück in Crispins Umarmung. Ganz sanft. Ich will ihr nicht wehtun. Ganz egal, wie ihre Ve r anlagung aussieht, das hier hat sie mit Sicherheit nicht gewollt. Was auch immer es ist, das sie und Crispin verbindet, in diesem Moment ist sie einfach nur eine Frau, die Hilfe braucht und Trost. Und er der Mann, der ihr genau das gibt.
Das erste Mal, seit Crispin bei sich zu Hause aus dem Büro gekommen ist, sieht er mir in die Augen. So viel Liebe steht darin geschrieben, dass es mir das Herz brechen will. Er lächelt mir einmal kurz zu, dann dreht er sich zu George, der direkt hinter der Tür stehen geblieben ist.
„Der Krankenwagen wird bald hier sein. Michaela hat ve r standen, dass ihre Verletzungen versorgt werden müssen.“
Ein sichtbares Aufatmen zittert durch Georges Körper. „Crispin …“
„Du wirst ihm die Mitgliedschaft kündigen.“ Scharf unte r bricht Crispin ihn. „Ich will, dass jeder in der verdammten Szene weiß, was heute hier passiert ist. So etwas darf nicht pa s sieren.“ Sein Ton ist hart, unnachgiebig. Nicht einmal dann, wenn er mit den Seilen an mir arbeitet, habe ich ihn so spr e chen gehört. Seine Augen glitzern wie Eis. „Genau aus diesem Grund verabscheue ich diese öffentliche Zurschaustellung. Es ist gefährlich, wenn Menschen das tun, die es nicht im Griff haben. Die sich etwas beweisen wollen. Wie oft habe ich dir das gesagt?“
„Mr. Holloway …“ Erst jetzt bemerke ich den jungen Mann neben dem Fenster. Ganz in schwarzes Leder gekleidet, mit einem schwarzen Rüschenhemd und dunklen, langen Haaren, habe ich ihn in dem Schatten zuvor überhaupt nicht gesehen.
„Du …“ Mit einem Zeigefinger zeigt Crispin auf den and e ren, doch er kommt nicht weit, denn in diesem Moment öffnet sich die Hintertür des Büros, und zwei in High Visibility We s ten gekleidete Sanitäter schieben eine Rollliege herein. Mit b e tont unbewegter Miene und effizienten Griffen helfen sie M i chaela auf die Beine und nötigen sie, sich auf das wacklig au s sehende Gestell zu setzen. Crispin hält die ganze Zeit dabei ihre Hand. Das trägt ihm dann doch den einen oder anderen bösen Seitenblick der Sanitäter ein. Ganz offenbar denken sie, er sei für das verantwortlich, was hier geschehen ist. Und er tut nichts, um diese Annahme zu zerstreuen. Er sieht mitgeno m men aus, verstört und gleichzeitig unglaublich wütend. An der Tür entzieht Michaela ihm ihre Hand. Ich sehe wie sein Griff sich verstärkt, aber sie schüttelt den Kopf.
„Nein, Crispin. Ich schaff das schon allein. Bleib du bei A m ber. Sicher hat sie viele Fragen.“
„Bist du sicher, dass du okay bist?“
Sie schaudert ein wenig, aber nickt dennoch.
„Ich ruf dich an, Baby, okay? Morgen?“
„Wann immer du Zeit hast.“ Müde klingt sie. Wahrscheinlich fängt das Medikament an zu wirken, das ihr in die Vene g e spritzt wurde. Gemeinsam schauen wir ihnen nach.
„Mr. Holloway?“ Der, dessen Name ich immer noch nicht kenne, ist hinter uns getreten, während wir Michaela nachges e
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