Ambient 02 - Heidern
zu, wie das Licht langsam das Fenster erfüllte, während die Sonne höher stieg. Unser Kamin wurde zuerst ganz golden, dann wieder weiß. Wo Pappi Gemälde von der Wand genommen hat, ist die Farbe viel heller. Unglaublich, wie dreckig unsere Wand ist. Unser Wohnzimmer, Anne, gehört nur uns, niemandem sonst. Ich werde es vermissen, selbst wenn die neuen Mieter in Ordnung sind und wir bald wiederkommen. Es ist mir noch nie in den Sinn gekommen, daß man auch woanders für immer wohnen könnte. Sogar, als wir diesen Sommer in London verbrachten, war mir klar, daß wir heimkehren würden. Und als es nur noch eine Woche dauern sollte, da konnte ich es vor lauter Vorfreude auf daheim kaum mehr aushalten.
Da die anderen immer noch nicht wach waren, ging ich noch einmal in mein Zimmer und fing an, meine Schubladen durchzusehen. Glücklicherweise habe ich bereits eine Menge Mist weggeworfen, als meine nun verhaßten neuen Möbel vorigen Monat kamen. Da fällt mir das Aussortieren jetzt nicht schwer. Pappi hat gestern Schachteln aus dem Schnapsladen an der 86. Straße mitgebracht. Da konnte ich jetzt loslegen wie eine Packratte. Als die anderen endlich aufstanden, gingen sie auch an die Arbeit. Unvorstellbar, wie viel wir wegwerfen, Dinge, die ich nie zu Gesicht bekommen habe! Mir kommt es so vor, als hätten Pappi und Mama ihr Zeug noch nie durchgeforstet.
Am Nachmittag machte Pappi sechs Schachteln mit Büchern fertig und brachte sie zu Strands, dem Antiquariat downtown. Er besitzt Tausende von Büchern, also scheinen sechs Kisten nicht viel, Anne, aber meines Wissens hat er noch nie welche hergegeben, weil er sie alle so liebt. »Ach, Liebling, das macht ihm nichts aus. Das sind doch nur alte Schulbücher aus der College-Zeit, alles Unsinn inzwischen. Es ist doch schon so lange her, daß wir zur Schule gingen«, erklärte Mama. Aber ich habe mich bei Strands schon einmal nach alten Schulbüchern umgesehen; die führen gar keine. Es müssen echte Bücher gewesen sein.
Meine Bücher liebe ich auch, aber es sind bei weitem nicht so viele wie die von Pappi und Mama. Nie würde ich eines davon hergeben, außer ich müßte unbedingt, so wie Pappi anscheinend jetzt unbedingt muß. Sie sind jetzt alle gepackt und umzugsfertig, genau wie meine Sommerkleider, meine alten Stofftiere und alles, was mir sonst so gehört. Boob ging mit Mama heute ihr unaufgeräumtes Zimmer durch und sie versuchten, einen Durchblick zu kriegen. Boob machte gar keine Zicken wie sonst, also fragte ich sie, ob es ihr gut gehe. »Bauchweh«, sagte sie und schlug mit der Hand auf ›Foeti‹, als wolle sie ihm weh tun. »Ich bekomme ein Magengeschwür.«
Anne, gerne würde ich mehr schreiben, aber ich bin zu müde. Vielleicht sollte ich mehr für meinen Körper tun, so wie heute früh. Morgen besuchen wir die neue Wohnung. Ich erzähle dir dann, wie sie aussieht.
22. März
Am heutigen Sonntag sahen wir zum ersten Mal die Wohnung, in der wir von jetzt an leben werden. Ich kann es kaum ›neue Wohnung‹ nennen, weil sie nie so unsere Wohnung sein wird wie diese hier. ›Neu‹ kann man sie eigentlich auch nicht nennen, weil das Gebäude älter ist als unseres. Es ist ein alter, roter Ziegelbau an der Ecke Broadway und Tiemann Place, etwas unterhalb der 125. Straße, also der nördlichste Zipfel von Morningside Heights. Boob nennt es Alaska. An der 125. Straße fängt Harlem an. Die U-Bahn fährt bei Broadway und Tiemann schon oberirdisch und zwar über eine gigantische Eisenbrücke, die völlig schmutzig und verrostet ist. Darunter stehen Autowracks. Mama und Pappi haben uns untersagt, dort in die U-Bahn einzusteigen. Wir sollen den Bus an der 123. Straße und Broadway nehmen, der in den Osten Manhattans hinüber geht und dann in den Bus umsteigen, der die 86. Straße entlang fährt, bis zum East End sitzen bleiben und dann den Rest bis zur Brearly zu Fuß gehen. Wir müssen deswegen jeden Morgen eine Stunde früher aus dem Haus, um rechtzeitig anzukommen. Ich werde mich nie mehr ausschlafen können!
Pappi meint, das Viertel sehe schlimmer aus, als es ist. Eine Menge Menschen von der Columbia wohnten hier, und einige Gebäude am Nordende des Tiemann Place seien sogar Genossenschaftswohnungen. Kann ich mir nicht vorstellen. Dazu sehen die Menschen auf der Straße zu arm und unglücklich aus. Tiemann Place erstreckt sich über zwei Querstraßen und endet am Riverside Park. Pappi hat uns auch verboten, dorthin zu gehen, weil er viel gefährlicher sei
Weitere Kostenlose Bücher