Ambient 02 - Heidern
über die Straße gingen. Hinter der nächsten Querstraße standen Menschen zu Tausenden herum, tranken, stritten, rotteten sich zu kleinen Gruppen zusammen. Wir wanden uns still und unauffällig zwischen ihnen hindurch, damit wir kein Aufsehen erregten, aber ich glaube, es hätte uns eh keiner gesehen, so geschäftig wurde ge- und verkauft. Auf einer Baulücke stand eine Reihe von Lastwagen, über und über mit Graffiti bemalt, von deren Ladeflächen aus Videorecorder, Stereoanlagen und Fernsehgeräte verkauft wurden. Kerle mit Kapuzen auf dem Kopf und geschulterten Gewehren luden braune, in Packpapier gewickelte Pakete in die Kofferräume ihrer Autos. Überall stiegen weiße und schwarze Frauen mit blondgefärbten Haaren und in Unterwäsche in Autos und wurden weggefahren. »Die Luden verschicken ihre schlappsten Nuttn nach downtown; dort müssn sie jetzt bei dem Abschaum, der innen Tunneln haust, anschaffn«, erklärte mir Jude und spuckte in deren Richtung, ohne jemanden zu treffen. Zwei ältere Frauen standen neben einem Regal voller Handies, die zum Verkauf standen. »Alle wolln heutzutage alles zu Geld machen. Hier gehts ab, was? Schaut, schnell, dort drüben!« flüsterte Jude und deutete mit dem Kopf auf die andere Straßenseite, wo einige Mercedes und BMWs geparkt waren. Die Scheiben waren getönt; man konnte also nicht sehen, wer drin saß. Dauernd stiegen Leute aus und ein, die sich auf ihre Jackentaschen klopften. Ein paar Kerle hoben die Plane eines Pick-ups hoch und zeigten ihr Sortiment an kleinen und großen Handfeuerwaffen. »Mein Friedensstifter wird wohl schon drei Staaten weiter für Ruhe sorgen«, jammerte Jude und schüttelte den Kopf. »Wär nich das Schlechteste«, meinte Iz, die mich ständig am Arm packte, wenn ich ihrer Meinung nach zu weit abdriftete. Dabei war es hier gar nicht so beängstigend, wie ich anfangs gedacht hatte, Anne, weil alle viel zu beschäftigt waren. Seltsamerweise waren keine Grünärsche in der Grube zu sehen, obwohl Leute Armeeausrüstungsgegenstände wie Gasmasken, elektronisches Zubehör und Kisten mit aufgemaltem Rot-Kreuz-Emblem verhökerten. Manche Kisten trugen auch das gelbe ›Smiley‹-Gesicht. Polizeiautos waren genug zu sehen, aber die Polizisten waren vollauf damit beschäftigt, selbst zu kaufen und zu verkaufen. So ging das bis hinüber zur St. Nicholas Avenue. »Jetz dicht zusammen bleibn!« kommandierte Jude. »Nächste Haltestelle: der Dschungel!«
Dieser Abschnitt hat mir viel mehr Angst eingejagt, Anne. Obwohl es Tag war, wurde man das Gefühl nicht los, es sei Nacht. Die Autos, die hier am Straßenrand standen, waren alt und verbeult. Ihre Radios plärrten volle Lautstärke. Auf den Autos saßen Menschen, oder sie ließen die Füße aus den Fenstern und Türen baumeln. Ständig mußten wir über Gestalten steigen, die mitten auf dem Gehsteig weggeduselt waren. Vor allen noch nicht eingestürzten Gebäuden standen Männer und Jungs auf den Stufen. Es waren wohl ebenso viele Menschen unterwegs wie vorne im Geschäftsviertel, aber hier wurde nichts Großes verkauft. Hier war ein Mahlstrom durcheinanderschlurfender Gestalten, die ständig wirres Zeug flüsterten, zehn bringen zwanzig, hier is der Zauber, gut gewogen, Mann, gut gewogen. Überall stank es schrecklich nach Pisse und Kotze und Schlimmerem.
Als wir vorübergingen, beobachteten uns die Männer auf den Stufen, ließen aber nicht die üblichen Sprüche ab. Viele hatten Geschwüre im Gesicht. Alle sahen nach Junkieelend und wirklichem AIDS aus. Jeder, ob Mann, ob Frau, hatte hängende Lider, Narben, fehlende Gliedmaßen und Zahnlücken. Die Frauen hatten meist knochige, völlig ausdrucksleere Gesichter. Viele bluteten aus Schnittwunden. »Wennse hier is, kann ihr keiner mehr helfn, Jude. Gehn wir wieder!« flüsterte Iz.
»N Stück noch!« sagte Jude und ging weiter Richtung Osten.
Mitten auf der Straße stand ein Prediger auf dem Dach eines Kleinbusses, ein Mikrophon in der Hand. Ständig schrie er erwachet, erwachet, erwachet in die Menge, aber keiner blickte auch nur auf zu ihm. Die Seite seines Wagens war bemalt. Ein Teufel mit ›Smiley‹-Gesicht und Skelette warfen Menschen ins Feuer. Darunter standen Tausende von Wörtern, als habe er die ganze Bibel dort hingepinselt. Über unseren Köpfen flogen Hubschrauber; manche warfen mit Steinen nach ihnen, aber keiner traf irgend etwas außer einen von den anderen. Es war laut, wenn die Helikopter vorbeiflogen, aber waren sie dann weg,
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