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Ambient 02 - Heidern

Ambient 02 - Heidern

Titel: Ambient 02 - Heidern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Womack
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hatte, doch ich bezweifelte es. Man hatte gesehen, wie sie auf das Blut starrte, das unter ihr den Marmor rosa verfärbte. Später kam die Wahrheit über den armen, alten Jesus heraus, man machte sie an einem dermaßen passenden Zeitpunkt publik, als geschähe es mit Absicht so, sie setzte den Räsonierern einen Dämpfer auf, legte alte Streitigkeiten bei, um neuen Konflikten Platz einzuräumen. Alle die für geringfügigere Morde die Schuld auf sich luden, fanden nie ihre Strafe; nach seinem Rückzug aus der Welt ergrübelte Avi sich ein abgewandeltes Credo, und als er wiederkehrte, ging er, so wie Bernard und ich, zur Dryco, einer wie der andere hatten wir unsere Erinnerungen an die verlorene Welt vorsätzlich gelöscht. Nach einer Weile trat das Vergessen so verläßlich auf, wie man Hunger bekam.
    Macaffrey wirkte, als ob der Vorwurf ihn beschämte. »Mein Vater war 'n Pfaff, der Traubensaft austeilte und den Leuten vorlog, es wär Wein.« Ich überlegte, wer wohl, falls ich ihm in die Augen schaute, meinen Blick erwidern mochte. »Meine Familie kannte ihre Pflichten. Egal. Gefällt Ihnen unsre Schule?«
    »Ich finde Ihren Ansatz erfrischend«, sagte ich. »Für ihr Alter sind Ihre Schüler bemerkenswert redegewandt …«
    »Wenn sie's wollen, können sie's sein«, entgegnete er. »Ihnen ist nicht entgangen, wie Sie sie angeguckt haben. Weder überrascht's sie, noch macht's ihnen Spaß.«
    »Tut mir leid«, beteuerte ich. »Ich hatte etwas über sie gelesen, aber sie noch nie gesehen …«
    »Sozialarbeiterfloskeln«, sagte er und lächelte, »aber Augen machen wie in der Abnormitätenschau. Na ja, immerhin ist's ja auch 'ne ganz eigene Welt, worin sie leben.« Er senkte die Stimme, wie um uns nun in Einzelheiten einer Verschwörung einzuweihen. »Wissen Sie, ein paar von ihnen konnten schon Minuten nach der Geburt sprechen. Ein Arzt, den ich mal kannte, hat mir erklärt, ihre Stimmbänder hätten sich schon nach unten verlagert gehabt, oder nach oben, oder wie's halt abläuft. Gewöhnlich reden Säuglinge nicht, weil dieser Vorgang erst später eintritt, aber sie konnten's. Aber das ist daran noch gar nicht das Wunderbarste …«
    »Was dann?«
    »Wenn sie bei der Geburt wußten, wie man spricht, bedenken Sie mal, wie lang sie vorher zugehört haben müssen.« Seine Wangen preßten ihm die Lider zusammen, wenn er lächelte, vergruben seinen Blick hinter Falten. »Weshalb will Ihr Boss mich sprechen?« fragte er, die Augen plötzlich weit offen, und ich schaute direkt hinein. Als ich antworten wollte, gelang es mir zuerst nicht; schließlich stammelte ich doch eine Entgegnung.
    »Wüßte ich es, dürfte ich es trotzdem nicht sagen.«
    »Akzeptable Auskunft«, sagte er. »Ich komme morgen mittag vorbei, wenn der Unterricht aus ist.«
    »Wir schicken Ihnen einen Wagen …«
    »Ich find allein hin«, versicherte er, öffnete die Tür. »Ich bring Sie runter, damit Sie sicher ins Auto gelangen.«
    Während er uns hinabbegleitete, erlebte ich ein Gefühl mulmiger Erleichterung, ein Empfinden, wie ein Kind es haben mochte, wenn der Elternteil, von dem es gerade Dresche bezieht, auf einmal die Rute beiseitewirft und es in die Arme schließt. Auf dem Weg nach unten begegneten wir anderen Lehrern, die Macaffrey am Arm oder an der Schulter tätschelten; Schüler gingen langsamer, sobald sie ihn sahen, beeilten sich dann vorbei. Macaffrey nickte allen zu, trat auf wie ein Amtsinhaber, der sein Elektorat durchquerte.
    Der Leichnam lag noch auf dem Bürgersteig. Macaffrey seufzte, als er den Toten sah. »Ihr Werk?« fragte er Avi, der es, als hätte man ihn mit der Pratze im Bonbonglas ertappt, halblaut gestand. Macaffrey kniete nieder, legte dem Mann eine Hand auf den Brustkorb, rüttelte an ihm. Dann drehte er den Kopf und sah uns an, richtete den Blick, ohne zu blinzeln, in meine Augen. Mir wurden die Knie weich, ich stand noch völlig unter dem Eindruck seines vorherigen Blicks; die Beine gaben mir nach, ich spürte, wie Avi mich um die Taille faßte, mich aufrechthielt. Der bisher der Welt verloren Geglaubte blinzelte.
    »Reiß dich zusammen!« forderte Lester ihn auf. »Wie alt bist du, Freundchen?«
    Er sah wie sechzig aus. »Achtzehn.«
    »Dann müßtest du wissen, was werden kann, wenn du Leute belästigst, die du nicht kennst. Hau ab, verschwinde! Mach so was nie wieder! Verpfeif dich!«
    Der Mann wankte zur Avenue A davon, betatschte sich den Kopf, als versuchte er sich zu entsinnen, wo er ihn gelassen gehabt

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