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Ambient 02 - Heidern

Ambient 02 - Heidern

Titel: Ambient 02 - Heidern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Womack
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flüchtigen Anlaß gemietetes Kind wirkte. Lange hatte ich mich an meine Träume deutlicher als an meine Vergangenheit erinnert.
    »Sie sind tot«, antwortete ich. »Ich bin in Short Hills aufgewachsen, in Jersey. Ein paar Jahre nach Vaters Pensionierung haben sie das Haus verkauft.«
    Er hatte es für zehntausend Dollar erworben und für siebenhunderttausend verkauft; hätte ich den Wunsch gehabt, es an diesem Tag wiederzuerwerben, ich hätte die gleiche Menge an Dollars wie derzeit er zahlen müssen, aber die Kosten wären erheblich höher gewesen. Es handelte sich um ein gemütliches Haus in der Nähe des Arboretums sowie des Bahnhofs; dort in den Gehölzen sammelte ich meine ersten Erfahrungen mit Jungs. Im Garten hinterm Haus stand ein mit Gas betreibbarer Grill, geschwärzt durch Asche und Ruß von tausend Grillabenden; ich erinnerte mich daran, wie ich als Kind in die Flammen geblickt und darüber gestaunt hatte, wie kühl diese eisblauen Federgebilde aussahen.
    »Wahrscheinlich sind sie alt gewesen …«
    »Sie waren jung«, widersprach ich. »Sie sind in einen Seniorenpark gezogen. In Florida. Die Währungsreform hat sie um ihre Ersparnisse gebracht. Sie konnten ihre Seniorenwohnung nicht mehr unterhalten und bekamen die Kündigung. Ich habe nachträglich davon erfahren. Sie wollten wohl nicht, daß ich mich ihretwegen mit Sorgen plage, und ich hätte nie gedacht …«
    »Schon gut, Joanna …«
    »Laß uns hinaufgehen«, sagte ich. Lester stapfte nach oben voraus. Das Obergeschoß hatte den Mangel defekter Automatiksauger; Staub wallte uns entgegen wie am Strand Nebel vom Meer. »Sie haben mich nicht benachrichtigt. Es war ein derartiger …«
    »Joanna?«
    »Ein derartiger …«, fing ich noch einmal an, blieb jedoch außerstande, für den Satz einen geeigneten Schluß zu finden.
    »Fühlst du dich wohl?«
    »Bestens«, beteuerte ich. »Ich bin bestens drauf. Mit ihnen stand's auch bestens. In ihrem Leben lief alles völlig reibungslos. Viel zu glatt. Ich hatte mir angewöhnt, mir um sie keine Gedanken zu machen.«
    »Joanna, egal was sich ereignet hat, 's war nicht deine Schuld …«
    »Ich hätte bei ihnen sein sollen«, sagte ich, blieb stehen, lehnte mich an die Wand; seit der Tragödie hatte ich mir nicht gestattet, jemals daran zu denken. Sie hatten sich für das weitere mit der Logik entschieden, die sie in allen Situationen anzuwenden pflegten; sie beschlossen, gemeinsam zu sterben, also hatten sie sich aus zuverlässiger Quelle Gift verschafft. »Warum haben sie's mir nicht mitgeteilt?«
    »Joanna, alles ist gut«, sagte Lester, stützte mich, umfing mich, als wollte er verhindern, daß ich ins Schlottern verfiel. Sobald ich ein entsprechendes Alter erreicht gehabt hatte, um meine Angelegenheiten selbstständig abzuwickeln, bereiteten meine Eltern sich jeden Samstagabend ein Essen bei Kerzenschein. Ich entsann mich, sie sehr oft, wenn ich das Haus verließ, am Eßtisch sitzen gesehen zu haben, wie sie sich in die Augen blickten, als hätten sie erst am Vortag geheiratet. Vielleicht hatten sie sich an ihrem letzten Abend das Beisammensein noch so romantisch wie möglich zu gestalten beabsichtigt; jedoch ist es wahrscheinlicher, daß man ihnen den Strom gesperrt hatte, sie das Kerzenlicht brauchten, um die richtige Dosis Gift zu bemessen. Die Schlafzimmervorhänge seien durch eine Kerze in Brand geraten, hieß es später seitens der Feuerwehr; beide hätten die Besinnung verloren, ehe sie die Kerzen löschen konnten.
    »Ich wußte nichts«, betonte ich. Mutter hatte den Feuertod wohl verschlafen; Vater sich noch durchs halbe Wohnzimmer geschleppt. »Die Feuerwache hat mir am nächsten Tag für ihren Einsatz per Fax eine Rechnung geschickt. Dadurch bin ich überhaupt erst davon informiert worden …«
    »Es ist gut«, wiederholte Lester, ohne mich loszulassen. »Es ist alles gut. Nur zu, weine ruhig …«
    »Ich kann nicht«, sagte ich. »Seit Jahren bin ich dazu nicht mehr fähig. Nicht richtig.«
    Sie hatten sich gewünscht gehabt, ihre Asche sollte vor Coney Island, wo sie sich kennenlernten, ins Meer gestreut werden. In der darauffolgenden Woche fuhr Avi mich am frühen Morgen an den Strand und hielt Wache, um sicherzustellen, daß niemand mich störte. Ich ging hinab zur Brandung, stach mir unterwegs fast den Fuß an einer alten Spritze. Wind wehte; ich wollte warten, bis er nachließ, aber als ich die Asche ausschüttete, fegte eine plötzliche Bö sie zurück aufs Ufer, sie vermischte sich mit

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