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Ambient 02 - Heidern

Ambient 02 - Heidern

Titel: Ambient 02 - Heidern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Womack
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dem grauen Sand, bis ich nicht mehr zu unterscheiden vermochte, wo sie lag.
    »Jetzt weinst du«, sagte Lester. Wirklich rannen mir Tränen über die Wangen.
    »Nein …«
    »Doch …«
    »Nicht richtig«, erwiderte ich. »Komm«, forderte ich ihn auf, löste mich von ihm, wischte mir das Gesicht trocken. »Entschuldige. Laß uns hinaufgehen. Nach oben.«
    Auf dem Treppenabsatz bogen wir in einen kurzen Flur ein und durchquerten ihn. »Hier ist mein Schlafzimmer«, sagte ich, als wir es betraten, mein Bett, den Ankleidetisch und den TV-Apparat vorfanden, wie ich alles zurückgelassen hatte. Nach dem Licht schaltete ich auch den Fernseher ein, weil ich hoffte, es käme vielleicht etwas, das mich ablenkte. Ein Werbespot lief: Um Leuten Uhren anzudrehen, zitierte der Sprecher das zweite Gesetz der Thermodynamik, während zu den Bildern fast nackter, blau gefärbter Frauen ein alter Song Otis Reddings dudelte. So spät konnte ich solches Neopost-Gekurbel nicht mehr verkraften, also schaltete ich die Flimmerkiste wieder aus.
    »Ist dir besser?« fragte Lester. Ich nickte. »Du hast 'ne schöne Wohnung.«
    »Es ist Thatchers schöne Wohnung«, sagte ich. »Derartig auszuflippen war nicht meine Absicht. Es liegt bloß an …«
    »Ich hätt das Thema nicht anschneiden sollen«, sagte er und berührte mein Gesicht. »Keine Bange. Alles ist in Ordnung.«
    »Ich bin so lange nicht imstande gewesen zum Weinen«, sagte ich, setzte mich aufs Bett. »Meine Tränen waren irgendwie völlig versiegt. Es tat zu weh, so tief zu fühlen. Ich hab's einfach nicht mehr fertiggebracht. Tut mir leid …«
    »Du kannst vor mir ohne weiteres weinen, Joanna«, versprach Lester. »Es ist doch nichts dabei …«
    »Seit der letzten Nacht mit Avi habe ich nicht mehr geweint«, sagte ich. »Seitdem nie wieder. Thatcher wird mich niemals weinen sehen.«
    Lester setzte sich neben mich, wahrte jedoch so viel Abstand, daß ich mich, während ich die Tröstlichkeit seiner Nähe genießen durfte, nicht in eine unerbetene Umarmung gezwungen fühlen mußte. Ich atmete in tiefen Zügen durch, rang um Fassung, saugte soviel Luft in meine Lungen, wie hineinpaßte; ich hatte ein Empfinden, als hätte ich, so wie Jake es bestimmt getan hatte, grundlos getötet.
    »Du und Avi müßt euch sehr nahegestanden haben«, sagte Lester.
    »Es ist komisch«, meinte ich. »Wir haben den Schlußstrich gezogen, gerade als wir zueinander das innigste Verhältnis hatten. So ergibt es sich anscheinend immer, glaube ich, wenn man jemanden zu genau kennenlernt. Als ob man zuviel Schichten Haut abschält und dann die Berührung nicht mehr ertragen kann.« Ich stand auf, strich meinen Rock glatt, ging durchs Zimmer zum Kleiderschrank, versteckte mich hinter der Tür, sah im Innenspiegel, in was für ein Geferkel sich mein Gesicht verwandelt hatte. Mit Tüchern und Creme schminkte ich mich ab, schüttelte die Schuhe, wo ich außerhalb von Lesters Sicht stand, von den Füßen. »Und wo wohnst du?«
    »Mal hier, mal dort«, antwortete er. »Ist ganz nett, 'n bißchen rumzukommen.«
    »Du stammst ursprünglich aus Tennessee?«
    »Kentucky«, berichtigte er mich. »Hier oben bringt man's ständig durcheinander. Ich bin in der Nähe von Lexington aufgewachsen. Die Familie meiner Mutter kam von hinterm Berg.«
    »Wie ist es da unten?« Bekannte Thatchers unterhielten in dem Bundesland Gestüte und tischten gern bei jedem Geschäftsessen märchenhaft verbrämte Geschichtchen übers Landleben auf; ich hatte von Anfang an den Verdacht gehabt, daß sie uns Wasser als Wein einschenkten. »Im Bild sieht es immer so schön aus.«
    »Ich bin seit Jahren nicht mehr dort gewesen«, sagte er. »Was übrig ist, weiß ich nicht. Wahrscheinlich ist's inzwischen genauso wie überall.«
    »Nachdem ich daheim ausgezogen war«, sagte ich, während ich meine Bluse aufknöpfte, »bin ich monatelang nicht hingegangen. Ich kann dich verstehen.« Er schwieg dazu, und ich fragte mich, ob ich ihn wirklich verstand. »Weshalb spricht man im Zusammenhang mit Kentucky vom Blauen Grasland?«
    »Keinen Schimmer. Das Gras ist's gleiche wie im Central Park, würd ich annehmen. Auch so bräunlich.«
    Ich schloß die Schranktür, trug nur noch, als ich dadurch in Lesters Blickfeld zurückkehrte, mein Höschen und sonstige Unterwäsche. Konnte ein Messias Verlangen verspüren? fragte ich mich. Ich wußte keinen Hinderungsgrund. Er schaute nicht fort, als er mich sah, wirkte aber ebensowenig erfreut; seine Wangen röteten

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