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Ambient 02 - Heidern

Ambient 02 - Heidern

Titel: Ambient 02 - Heidern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Womack
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sich, als hätte er eine plötzliche Bluttransfusion erhalten. »Leben deine Eltern noch dort?«
    »Ja«, sagte er. »Auf der anderen Straßenseite, gegenüber der Stelle, wo unser Haus stand, hat Toyota 'ne Fabrik gebaut, hab ich gehört. Inzwischen ist sie, falls die Firma nicht sowieso bankrott ist, geschlossen worden, vermute ich. Voraussichtlich wird die Dryco sie irgendwann wieder öffnen …«
    »Wahrscheinlich«, bestätigte ich, trat auf ihn zu.
    »Möchtest du, daß ich draußen warte, während du dich umziehst?«
    »Nein.« Schon so oft in meinem Leben hatte ich den Verdacht gehabt, daß im Laufe gewisser zeitlicher Phasen nicht alle meine Handlungen auf mich selbst zurückgingen; daß sich aus der Leere eines geliebten Menschen dybbuk erhob und für eine Weile in meinem Leib niederließ, um das Geschehen in meinem Kopf mitanzusehen. Ich langte hinab und fing an Lesters Hemd die Knöpfe aufzunesteln an, beobachtete dabei meine Hände, sah die Hände einer Fremden. Er blieb dermaßen reglos, daß es schien, als entkleidete ich eine Schaufensterpuppe.
    »Du bist sehr schön, Joanna«, sagte er.
    »Findest du nicht, daß ich fett bin?« Thatcher hatte einmal zu mir gesagt, er könnte auf meinem Hintern ein Teeservice abstellen, und ich würde es erst beim Setzen merken. »Ich pflege mich nicht besonders gut.«
    »Es wäre auch egal«, sagte Lester. Er zeigte eine gewisse Zurückhaltung, als ich ihm das Hemd vom Oberkörper zog, tat jedoch nichts, um es zu verhindern. Er wirkte schon in Kleidung schlank; jetzt sah ich seine ganze Drahtigkeit, die Straffheit, mit der seine Muskeln die Gliedmaßen umspannten. Dann schrak ich, als ich seine rechte Seite erblickte, jäh zurück; ich fühlte mich, wie ihm im Flur zumute gewesen sein mußte, als er sich nach meinen Eltern erkundigt hatte. Von der Taille bis zur Achselhöhle strotzte die Haut von furchigen Narben, ähnelte in ihrer Zerkerbtheit einem Berghang in Kentucky, hatte Gruben, wo sie hätte glatt sein sollen, wies Glätte auf, wo sie hätte Grübchen haben müssen. Die ursprüngliche Beschaffenheit hatte sie unwiederbringlich verloren.
    »Wer hat auf dich geschossen?« fragte ich. Avi hatte ähnliche Narben. Zum erstenmal, seit wir uns kannten, wandte Lester die Augen ab.
    »Ist in der Jagdsaison gewesen«, sagte er, lachte dabei. »Ein Jäger hat mich mit 'ner Kuh verwechselt.« Viele Männer belügen Frauen, als hätten sie ihre Mutter vor sich, stottern mit solcher Verwegenheit so offenkundige Unwahrheiten, daß man sich vorstellen kann, es wäre geradezu ihr Traum, beim Schwindeln ertappt zu werden.
    »Lester …«
    »Es ist schon länger her«, sagte er. »Nichts Wichtiges ist getroffen worden. Die Zeitungen nannten mich 'n Wunderkind.«
    »Was war denn vorgefallen?«
    Er schüttelte den Kopf; bis auf weiteres ließ ich von dem Thema ab. »Du kannst von Glück reden, daß du noch lebst«, sagte ich; er machte auf mich den Eindruck, nicht so recht zu wissen, was er darauf entgegnen könnte, deshalb lieber zu schweigen. Ich bemerkte den Anflug eines Lächelns auf seinen Lippen, als ob er einen altbekannten Witz das soundsovielte Mal gehört und seine Höflichkeitspflicht erfüllt hätte, indem er so tat, als wäre er ihm erstmals erzählt worden. Ich setzte mich ihm gegenüber auf den Stuhl vor meinem Schminktisch.
    »Es geht nicht, Joanna«, sagte er. »Wir würden uns dabei nicht wohl fühlen.«
    Das hätte mir einsichtig sein müssen; tatsächlich begriff ich es, doch das änderte nichts an meinem Bedauern. Er zuckte die Achseln und faltete sein Hemd zusammen. »Ist schon recht …«, sagte ich.
    »Egal was Ihre Ziele sind, Ihre Wege sind schwer zu durchschauen.« Wie lange, so überlegte ich, hatte er sich eingeredet, es gäbe einen höheren Zweck, bis er es schließlich glaubte? Hatte er wider bessere Erkenntnis, anstatt sich mit dem Wissen um die Wahrheit abzufinden, endlich doch zu hoffen begonnen? Ich sah ihn schaudern, während ich ihn musterte, als wäre es in diesem Zimmer so kühl wie bei Thatcher. Vielleicht schaufelte ihm in diesem Moment jemand ein Grab.
    »Denkst du manchmal noch an Kentucky?« fragte ich.
    »Von Nostalgie halt ich wenig.« Einige Minuten lang saßen wir stumm und gebeugt da, als zermalmte uns langsam die Lawine der Ereignisse, unsere vom Himmel gesandte Katastrophe.
    »Bleibst du trotzdem heute abend hier?« fragte ich. »Zum Reden?«
    »Ich bleibe länger«, eröffnete er mir. »Du hast Fragen?«
    »Ein paar Antworten

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