Ambient 02 - Heidern
müssen Sie dir doch gegeben haben«, spekulierte ich.
»Nicht die Art Antworten, die irgendwer hören möchte. Um welche Fragen geht's dir?«
»Gibt es ein Leben nach dem Tod?« wollte ich wissen.
»Was paßt dir denn an deinem Leben vor dem Tod nicht?«
»Sag ja«, forderte ich. »Sag mir, daß außerhalb unserer Existenz eine vollkommenere Welt besteht. Aber weshalb sollten Sie in dem Fall diese Welt beibehalten?«
»Was glaubst du?« fragte er seinerseits. Ich legte mich aufs Bett; Lester blieb sitzen.
»Zum Üben«, sagte ich. »Weil sie sich vom Original nicht trennen mochten. Um sie als Anschauungsmaterial verfügbar zu haben.«
Er nickte, schaute fort, dachte über die eigene Frage nach. »Ich kann nicht vermeiden, ihn zu enttäuschen«, erklärte er. »Was wird er mit mir anstellen, wenn's soweit ist?«
»Das kommt darauf an, wie sehr er sich enttäuscht fühlt«, gab ich zur Antwort. »Er ist ein echter Lump. Er wird mich piesacken, bis ich kündige, und dich schikanieren, bis du bei ihm anfängst, und was währenddessen alles geschieht, ist einerlei.«
»In dieser Hinsicht hätte er recht«, sagte Lester. »Kann sein, der Schaden läßt sich verringern, wenn ich auf ihn zugehe und die Sache mit ihm beschleunige, dann …«
Ich schüttelte den Kopf. »Am besten tauchst du unter, ehe er dich in die Klauen kriegen kann. Es bringt überhaupt nichts, sich von ihm in irgend etwas verwickeln zu lassen. Du ahnst nie, was du als nächstes tun mußt, bis er dich dazu zwingt. Du darfst ihm gar keine Gelegenheit geben.«
»Es ist eine Gelegenheit, die es zu nutzen gilt«, widersprach Lester. »Was getan werden muß, erfüllt irgendeinen Zweck. Ich kann nirgends hin, Joanna. Ich muß gehorchen. Ich bezweifle, daß ich lange bei eurer Firma tätig sein muß.«
»Dann werde ich so lange wie du bleiben.«
»Ist mir klar«, sagte er. »Was für ein merkwürdiger Führungsstil … Man könnte meinen, er herrscht über den engsten Mitarbeiterkreis wie über 'ne Familie.«
»So verhält es sich auch«, bestätigte ich. »Er und Susie wechseln sich beim Keilen ab, während die anderen zugucken. Sie sind nicht stärker panne als die meisten Menschen, sie haben es bloß in ihrer Gestörtheit zur Meisterschaft gebracht.«
»Familien haben ihre Mißverständnisse«, sagte Lester. »Nach einiger Zeit nehmen Angehörige sich gegenseitig gar nicht mehr wahr. Das einzelne Familienmitglied wird von einer beliebigen Person auf der Straße ununterscheidbar.« Er erhob sich vom Bett; ich starrte so eindringlich, wie ich nur konnte, die Zimmerdecke an, versuchte mir selbst Engel heraufzuschwören.
»Nach längerer Zeit wird jeder blind«, sagte ich. »In der Nacht, als Avi und ich unsere Aussprache hatten, meinte er zu mir, jeder könnte zum Nazi werden, hört er erst einmal damit auf, seine Juden zu sehen.«
»War's sein Kind, das du bekommen hast?« fragte Lester. Im Liegen konnte ich sein Gesicht nicht erkennen. Er stand bei meinem Ankleidetisch, und bei seiner Frage wußte ich, daß er sich das Paar Schühchen besah, das ich oben am Rahmen des Spiegels hängen hatte. »Das sind nicht deine gewesen, oder? Du hast sie vergolden lassen …«
»Ich habe sie gestrickt«, antwortete ich.
»Du hattest 'n Kind?«
»Eins.«
»Kürzlich?« fragte er, kam zurück und setzte sich wieder neben mich, sah mich an, als schaute er direkt in meinen Geist.
»Im Januar«, sagte ich. »So was gibt's eben.« Als ich die Lider schloß, beugte er sich näher herab.
»Und wo ist dein Kind jetzt?«
»Und wo sind deine Eltern?«
Die Gegenfrage erzielte die gewünschte Wirkung; er hielt den Mund. Ungefähr eine Sekunde später schlurfte er zum Lichtschalter, knipste die Zimmerbeleuchtung aus, kehrte zum Bett zurück und legte sich, das Gesicht abgewandt, an meine Seite. Während wir in Schweigen und Dunkelheit gehüllt lagen, gewöhnten meine Augen sich ans Düstere, nach einem Weilchen vermochte ich an Lesters Silhouette die unnatürliche Kurvung seiner Flanke zu unterscheiden. Mit den Fingerkuppen berührte ich leicht wie ein Schmetterling seinen Rücken, der sich anfühlte wie Hartgummi unter Samt, und im Kreuz, am Ansatz seiner Wirbelsäule, ertastete ich ein wie Lammwolle weiches Haarbüschel. Sobald ich wieder zu weinen anfing, rückte ich von Lester ab. Er umarmte mich, während ich mich umdrehte. Ich erinnerte mich, wie mein Vater mich als Kind in den Armen gehalten, wie behütet ich mich gefühlt hatte; niemals wieder hatte ich
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