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Ambient 02 - Heidern

Ambient 02 - Heidern

Titel: Ambient 02 - Heidern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Womack
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mich sicher fühlen wollen, nie jemanden um Schutz gebeten – niemals geglaubt, ich hätte dergleichen verdient, solange derartig viele andere Menschen lebten und starben, ohne sich nur denken zu können, daß es so etwas überhaupt gab.
    »Tut mir leid, Joanna«, sagte Lester. »Es fällt schwer, über das zu reden, worüber du sprechen möchtest.«
    »Mir geht's genauso«, stellte ich klar. »Du rufst mir zuviel in Erinnerung. Mir ist, als wäre ich überladen, als könnte mein Kopf gar nicht alles in sich behalten …«
    »Sich an zuviel zu entsinnen, ist unmöglich«, erwiderte Lester. »Alles müßte erinnert werden. Soviel wird im Lauf der Zeit vergessen. Jeder Augenblick müßte gewürdigt werden, bloß weil's ihn gegeben hat, sogar die schlimmen Momente.«
    »Jeder Augenblick …«, wiederholte ich, und mir war klar, daß ich mich nicht an tausend verschiedene Augenblicke meines Lebens erinnern könnte. »Weshalb sollten Sie einen Messias schicken, wenn Sie nicht einmal wissen, was geschehen wird? Warum sollten Sie das riskieren?«
    »Sie hegen Hoffnungen«, erwiderte Lester; er bettete seinen Kopf neben meinem Gesicht aufs Kissen, sogar im Dunkeln spürte man seine Müdigkeit.
    »Du hast erwähnt, du könntest für uns beide die Zukunft voraussehen«, sagte ich. »Wie ist sie?«
    »Unabwendbar«, stellte er fest, legte einen Arm um meine Schultern. Als er mich umfaßte, spürte ich, wie sich die feinen Härchen in meinem Nacken aufrichteten. Was toben die Heidern? Warum nicht? Eine Sirene heulte durch die Nacht, der Pfiff eines Zugs gellte. »Weißt du, wieso jeder das hier hat?« fragte Lester, tippte in die flache Vertiefung zwischen meiner Nase und der Oberlippe.
    »Ich weiß nicht einmal, wie man's nennt.«
    »Vor deiner Geburt wußtest du alles, was es zu wissen gibt«, erklärte er. »Du kanntest den Anfang und das Ende. Du hast gewußt, warum die Dinosaurier ausgestorben sind, das Blau blau ist. Du wußtest, wieso Leid uns nicht adelt und weshalb wir ohne es keine Menschen wären. Dir war bekannt, was das Leben dir bringt.« Ich berührte mein Gesicht, strich mit den Fingern über Lesters Hand. »Als die Zeit deiner Geburt kam, preßten Sie dir die Lippen zusammen, benutzten den Daumen eines Engels, um ihn zu versiegeln. Die Engel weinten, weil sie's tun mußten, aber ihnen war klar, es ging nicht anders, vor dem Eintritt in die Welt hattest du alles, was du wußtest, zu vergessen, denn hättest du dich erinnern können, wär's dir nie authentisch zu erfahren möglich gewesen, welches Gefühl das Dasein bereitet.«
    Obwohl wir nie Liebende werden konnten, erlebte ich, als ich ihn küßte, die gleichen Empfindungen, wie Intimität sie Verliebten in den ersten Minuten ihres Zusammenseins vergönnte, ein trügerisches Ineinanderfließen von Furcht und Erleichterung mit dem Frieden, den man empfindet, wenn man wieder zu glauben geneigt ist, die Welt könne trotz ihrer Krankhaftigkeit stellenweise wunderbar sein. Im Gegensatz zum Daumen eines Engels löschte der Kuß unser Gedächtnis nicht aus. Am Montagmorgen um neun Uhr erschienen wir zur Arbeit.

S ECH S
    Eine Diskussion über unser neues Projekt erfolgte am Montagnachmittag. »Versuchen Sie nicht abzustreiten, daß Sie Ihre Zweifel hatten«, sagte Thatcher. »Ich fänd's schroff, hätten Sie mir bloß nach 'm Mund geredet.«
    »Nach Freitagnachmittag hatte ich nicht mehr erwartet, daß aus der Sache noch was wird«, gestand Bernard. »Ich dachte, er flitzt zurück zu seinen Schäfchen, und wir hätten 's letzte Mal mit ihm zu tun gehabt.«
    »Ich hatte doch angekündigt, daß ich 'n bißchen nachhelfen werde.« Susie blickte ihren Gatten an, schüttelte den Kopf, als hätte er gerade zugegeben, beim Rasenmähen versehentlich ihre Blumenbeete niedergesenst zu haben.
    »Das war keine Garantie dafür, daß sich was ändert. Normalerweise wäre jemand wie er untergetaucht und wie ein Pilz woanders wieder zum Vorschein gekommen. Aber vielleicht ist die Entscheidung dadurch gefallen, daß er unsere Worte aus anderem Mund gehört hat.« Bernard wandte sich mir zu, lächelte mit so vollkommen geschwungenen, so bemerkenswert stillen Lippen, daß man hätte meinen können, sie wären seinem Gesicht lediglich aufgeschminkt.
    »Sie lernt dazu«, meinte Thatcher.
    »Wenn alles so schweinegut ist, wo liegt dann das Problem?« fragte Susie, die sich an diesem Tag weder hinter einer Sonnenbrille noch der Morgenzeitung vor der Welt verschanzte. Ihr Gesicht zeigte

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