Ambient 02 - Heidern
Mensch vor«, meinte Lester.
»Ist er aber«, entgegnete ich. »Alle hatten damals ihre Helden.«
»Macht die Arbeit Bernard Spaß?«
»Er ist hineingewachsen«, sagte ich. »Hinsichtlich der Werbung ist er ein Naturtalent. Angefangen hat er in der Produktentwicklung, aber er konnte kein Blut sehen.«
»Thatcher vertraut ihm?«
»Mehr als jedem anderen, glaube ich, ausgenommen Susie.«
»Was für 'ne Art von Verhältnis hat Gus zu Jake?« erkundigte Lester sich nach einem weiteren, ausgedehnteren Moment des Schweigens. »Außer daß er ihm was beibringt?«
»Nichts Anomales«, antwortete ich. »Avi hat mal erwähnt, Gus hätte gerne geheiratet und einen Sohn gehabt. Ich habe ihn gefragt, woher er das wüßte, und er meinte zu mir, er hätte es aus Gus' Handschrift gelesen.«
»Wolltest du auch mal heiraten?« fragte Lester.
»Früher, ja«, sagte ich. »Aber niemand mochte mit mir aufs Ganze gehen.«
In Wahrheit hatten einige Zeitgenossen es sehr wohl gewollt, doch wäre dadurch alles verdorben worden; ich konnte nie zulassen, daß die Männer, die ich am stärksten liebte, meine Geliebten wurden. Echte Freundschaft zwischen Mann und Frau kam so selten zustande, daß es sich unweigerlich als destruktiv erwies, erlaubte man sich in einer solchen Beziehung Sexualität, ähnlich als ob man einer Perle seine Initialen einkerbte.
»Lester …«
»Und wolltest du auch 'n Kind haben?«
»Erst als ich es hatte.«
»Verdient man genug Geld, ist Abtreibung nichts Verwerfliches«, sagte Lester, umarmte mich, als beabsichtigte er mir die Sicherheit zu geben, daß keiner von uns den anderen verließe, bevor die Zeit reifte. »Wir wissen's beide. Warum hast du nicht …?«
»Thatcher ist Abtreibungsgegner.«
Nachdem Lester sich verabschiedet hatte, schlief ich ein und träumte, ich sähe das Haus seiner Familie. Die Ruine stand so trostlos da wie eine alte englische Kirche, obwohl das Haus unmöglich vor dem amerikanischen Bürgerkrieg gebaut worden sein konnte; nie hatte die Hand eines Sklaven den Stein berührt. Die Außenmauer des Schornsteins zierte ein blutig-rotes Diadem, ein verrosteter Basketball-Korbring. Ich öffnete die Haustür und schlich auf Zehenspitzen hinein, als beträte ich ein Kinderschlafzimmer. Keine Fetzen irgendwelcher Erinnerungen verhüllten die Nacktheit der Räume; die Amnesie dieses Hauses und meine glichen einander an Tiefe. Ich sah Lester in der Küche stehen. Jemand hatte die Tür der Vorratskammer aus den Angeln gehängt, und das Innere wirkte, als wäre sie erst kürzlich angenommen worden. In der Mitte der Rückwand umringte ein Kranz von Durchstichen einen in den Putz gesprengten Abgrund: Eine Impfnarbe hätte es sein können, das Mal vom Biß eines Engels, oder Saturn, der seine Kinder um sich scharte.
Was ist aus deiner Familie geworden? hörte ich mich fragen.
Mißverständnisse, antwortete Lesters Traumbild.
S IEBE N
Am nächsten Morgen reiste Susie zum Landsitz in Westchester ab, den anderen voraus, um die Erntedankfest-Vorbereitungen zu überwachen. Sobald sie sich aus Thatchers Schatten entfernte, erlangten die Knospen ihrer Persönlichkeit die volle Blüte; Avi hatte erfahren, daß im Vorjahr binnen eines Tags nach Susies Ankunft zwei Mitglieder des Küchenpersonals den Freitod wählten. Während ich am Vormittag in Bernards Büro saß und auf Thatcher wartete, blätterte ich Susies Zeitung durch, entnahm ihr Anzeichen dafür, daß die Zeit heranrückte. In Ohio entdeckte eine Frau den Herold des neuen Jahrtausends in plastischen Umrissen an ihre Garagenmauer gebrannt; Astroanalytiker stimmten dahingehend überein, daß Läden, die geöffnet blieben, in diesem Jahr Gewinn abwürfen; im Norden Englands stand man kurz vor der Zerschlagung von Satanistenkulten. Im Sankt-Patrick-Dom hatte sich ein Mord ereignet: Beim Bekennen einer läßlichen Sünde hatte einen Beichtiger das Bedürfnis überwältigt, eine Todsünde zu verüben, und er hatte den Priester im Beichtstuhl zu Tode getreten.
»Ob Thatcher sich übernimmt?« murmelte Bernard. »Nein«, entschied er selbst die Frage, ehe ich antworten konnte. »Diesmal nicht.« Ich begriff, daß er lediglich, während er sich mit seinem Papierkram beschäftigte, eine Art von mentalem Katechismus ableierte. »Was kann er schon gegen die Japaner tun, außer Leute gegen sie aufzuwiegeln?«
Nachdem ich darin Inspiration für ein ganzes Leben gefunden hatte, warf ich die Zeitung beiseite. Indem ich beschloß, im Tarnkleid der
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