Ambient 02 - Heidern
zugegen. Sie stierten Lester an; sogar Susie blickte einmal lange genug von der Brust ihres Gatten hoch, um herüberzulinsen, ihre Miene spiegelte soviel Verärgerung wie Scham wider, jedoch keine Andeutung von Dankbarkeit, und gleich darauf wandte sie das Gesicht ab. Ich konnte mir lediglich vorstellen, sie hatte gesehen, als sie das Antlitz ihres Todesengels gewahrte, daß sie es längst kannte.
»Gottes Segen«, schwafelte Thatcher. »Gottes Segen über uns. Ich hatte recht, Susie, ich habe recht gehabt. Nicht wahr? Ich hatte recht. Wir haben Gottes Segen …«
»Scheißgott«, raunte Lester so leise, daß nur ich es hörte. Bernard rückte näher, in der Hand seinen Drink, im Gesicht so bleich wie Lester, behielt aber einen gewissen Abstand bei. Er besah sich uns wie von der Höhe eines Bergs herab, und zum erstenmal, seit ich mit ihm Umgang hatte, blickte er durch mich hindurch, während er jemand anderes betrachtete.
»Hallellulla«, lallte Bernard. Hätte ich es nicht besser gewußt, wäre ich zu beschwören bereit gewesen, daß er alles genau verstand.
Später, am Abend, brachten Lester und ich Stunden im Gespräch zu.
»Jeder hat seine Gründe«, sagte er. »So wie Sie. Es erschreckt Sie genau wie uns.«
»Weshalb bin ich bloß so lange geblieben?« fragte ich.
»Wo hättst du denn hin sollen?« Wir lagen in meinem unbeleuchteten Heim im Dunkeln; um uns zu unterhalten, brauchten wir einander nicht zu sehen. »Was hättst du denn tun können?«
»Jetzt weiß ich, was ich hätte tun müssen …«
»Damals wußtest du's nicht«, sagte Lester. »Mach dir's Leben nicht mit verfehlten Selbstvorwürfen schwer, Joanna.«
»Mir wär's möglich gewesen, dies oder das zu tun«, widersprach ich. »Das ist tatsächlich die größte Sünde: Schlechtes mitanzusehen und dagegen nichts zu unternehmen.«
»Kinder eignen sich die Sünden ihrer Eltern leichter als ihre Tugenden an«, meinte Lester. »Wir sollten von Ihnen nicht mehr verlangen, als Sie von uns erwarten. Es wird nur einmal eine Veränderung über Nacht eintreten, und bis dieser Tag kommt, muß man sich ins Zeug legen, wenn man kann. Bis dahin muß man sich durchschlagen.«
»Du redest fast wie Bernard.«
»Auch 'n blindes Huhn findet ja mal 'n Korn.«
»Jahrelang habe ich wie er zu sein versucht«, sagte ich. »Wie die Drydens. Ich habe das gleiche wie sie verdient. Avi sieht es ähnlich, er hat sich mit dieser Einstellung abgefunden. Du hast ihn heute nachmittag erlebt …«
»Er verhält sich aus anderen Beweggründen so«, antwortete Lester. »Warum bist du so streng mit dir selbst?«
»Es ist immer mein Standpunkt gewesen, daß man zu sich streng sein soll«, erklärte ich. »Ich habe mir gewünscht, daß sie krepiert. Für das, was sie beide gemacht haben.«
»Eine menschliche Reaktion auf menschliches Betragen. Ganz verständlich.«
»Für mich nicht«, entgegnete ich. »Jetzt nicht mehr. Mich nicht, dich nicht, und ebensowenig für …«
»Verständlich für Sie«, unterbrach er mich. »Joanna, das Göttliche im Menschen kennt nicht nur gute, sondern auch schlechte Eigenschaften, und das Böse, das in Menschen wohnt, wird vom Bösen in Ihnen übertroffen.«
»Das ist keine Entschuldigung«, erwiderte ich. »An vielem bin ich selbst schuld. Einige meiner Bekannten haben immer behauptet, ich müßte eine gefühlsmäßige Masochistin sein …«
»So was sind die meisten Leute«, versicherte Lester. »Ich bin's wahrscheinlich auch. Glaubst du nicht, für eine messianische Rolle ist ein gewisser Masochismus unentbehrlich? Mit Bestimmtheit ist auf Ihrer Seite zwangsläufig eine beachtliche Portion Sadismus vorhanden.«
»Aber heute sehe ich, wie vieles ich anders angepackt haben könnte …«
»An seinem letzten Nachmittag hat Gus was zu mir gesagt«, erzählte Lester. »Er glaubte, hätt er am Tag des Attentats nicht auf der Erhebung gestanden, wär die Weltgeschichte von da an völlig anders verlaufen. Drum war er der Meinung, letztendlich trüg er dafür die Verantwortung, daß 's auf der Welt so zugeht, wie sie heutzutage eben ist.«
»Das hat er zu dir gesagt?«
»So ungefähr.«
»Und was hast du geantwortet?«
»Ich hab ihn gefragt, ob er wirklich nicht im mindesten unsicher sei, wer den tödlichen Schuß abgefeuert hätt. Es könnt ja doch Oswald gewesen sein. Er sagte, das sei unwesentlich, er wär dort gewesen, obwohl er derzeit geradesogut irgend was anderes hätt tun können. Je länger er davon sprach, um so klarer
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