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Ambient 02 - Heidern

Ambient 02 - Heidern

Titel: Ambient 02 - Heidern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Womack
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ihn kaum gesehen. Was hat er gesagt?«
    »Wenig«, lautete Lesters Antwort. »Er hat sich noch mal bei mir bedankt. Ich glaub, es war nicht, weil ich Mrs. Dryden geholfen hab. Es war, als dankte er mir im voraus für das, was ich, wie er denkt, für ihn tun würde. Ich hab ihm klarzumachen versucht, daß ich bei der Sache gar nicht mitzureden hatte, aber er hat bloß geschmunzelt und genickt.«
    »Sobald er erst einmal eine Vorstellung von dem hat, was er für die Realität hält, muß jeder sich daran halten«, sagte ich.
    »Hast du Mrs. Dryden vor ihrem Abflug noch gesehen?« fragte Lester.
    »Sie ist mir aus dem Weg gegangen. Sie sah nicht aus, als wäre sie über den ganzen Vorfall sonderlich froh, aber den Eindruck, irgendwann einmal gute Laune zu haben, hinterläßt sie ja nie. Sie hat nicht mal die Morgenzeitung gelesen.«
    »Ist sie inzwischen abgeflogen?«
    »Die Maschine ist erst am Nachmittag gestartet.«
    »Meinst du, er hat diesen Plan von Anfang an verfolgt?« fragte Lester als nächstes. »Was er da von mir will.«
    »Es paßt nicht zu ihm, über längere Zeit hinweg ein bestimmtes Ziel anzupeilen«, sagte ich. »Glaubst du, Sie haben auf sein Anliegen eine Antwort?«
    »Ich hab Ihre Kriterien nie durchschaut«, gestand Lester. »Ich weiß nicht, warum Sie Busse voller Gläubiger in Flüsse stürzen lassen. Warum Stürme Giebel runterwehn. Weshalb soviel Heilige jung sterben. Kann sein, Sie wissen's. Oder vielleicht nicht.«
    Die Straßen ringsum hatte anscheinend seit Jahren niemand mehr gefegt; wo keine Rolläden, Läden oder davorgenagelte Bretter die Fenster schützten, lagen sie in Scherben, die auf den Trottoirs Frostschichten ähnliche Glitzerflächen von Glassplittern bildeten, mit Diamanten gepflasterte Gehwege vortäuschten. Weil Brooklyn und Queens jetzt zum Niemandsland am anderen Flußufer zählten und Staten Island sich vor Jahren verselbstständigt hatte, blieb die Bronx neben Manhattan das einzige Viertel, das noch nominell der Verwaltung des Stadtrats der Stadt New York unterstand; allerdings nahm die Bronx im Verhältnis zu Manhattan den gleichen Status wie eine Kolonie zu ihrem Herrscherimperium ein: Sie glich einem strategischen Außenposten, dessen Bewohner man leicht überwachen konnte und dessen Verteidigung ständige Aufmerksamkeit erforderlich machte.
    »Ich denke mir, Sie könnten jede Menge tun …«
    »Ihre Handlungsmöglichkeiten sind unbegrenzt«, sagte Lester. »Göttin überläßt die Einzelheiten Gott. Daran hat Er sowieso Sein Hauptinteresse.«
    Die Familie meines Vaters hatte aus der Bronx gestammt; es fiel schwer, sich vorzustellen, daß hier jemand lebte. Meine Großeltern hatten in der Nähe der Kreuzung 149. Straße und Dritte Avenue gewohnt, bis sie nach Co-Op City zogen. Der Verfall, dem sie entrannen, folgte ihnen, doch als er sie einholte, lebten sie längst nicht mehr. Die einstige Süd-Bronx umfaßte nur noch etliche Quadratkilometer Ziegel, die nun in die Erde, aus der man sie gewonnen hatte, zurückverwittern durften, gab einen postindustriellen Komposthaufen ab. In der Nord-Bronx und längs der Stadtgrenze ließen die Viertel sich nicht von der Gegend im südlichen Westchester unterscheiden, gegenüber von Thatchers Landsitz; das heißt, sie zeichneten sich durch Baufälligkeit, Überbelegung sowie Gefährlichkeit aus und warteten auf eine immer wieder hinausgezögerte soziale Wiederentdeckung. Aus keinem anderen Grund als zur Sicherung des südöstlichen Quadranten gegen Übergriffe Long Islands und der von zahlreichen Offizieren in Riverdale für den Eigengebrauch beschlagnahmten Wohnungen hatte man überall in der Bronx Militär stationiert. Die Einwohnerschaft hatte sich dermaßen effizient gegenseitig massakriert, daß man jede Nachhilfe seitens der Armee als verzichtbar einstufte; das Durchschnittsalter des Bronxbewohners betrug derzeit dreiundzwanzig Jahre. Jensen, der vor noch nicht allzu langer Zeit zuzog, ging über in sein Halbleben im Alter von siebenundzwanzig Jahren.
    »Wo sind bloß die ganzen Menschen?« fragte Lester, weil er längs des Grand Concourse nichts als endlose Blocks leerer Gebäude sah. Ich schüttelte nur den Kopf. An rostigen Fenstergittern und verrammelten Türen hingen doch Schilder, auch ihm bekannte Schilder, wie man sie überall in der Umgebung vorfand, standardisierte Tafeln, auf deren jeder der gelbe Dryco-Strahlemann grinste und pro forma der Hinweis stand: FIRMENBESITZ DER DRYCO. ZUTRITT VERBOTEN. »Ich hätt nicht

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