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Ambient 02 - Heidern

Ambient 02 - Heidern

Titel: Ambient 02 - Heidern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Womack
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Daß ich entbunden habe, weiß ich noch, danach bin ich besinnungslos geworden. An mehr erinnere ich mich nicht …«
    »Ich weiß.«
    »Als ich aufwachte, befand ich mich auf der Station. Ich war die einzige Patientin. Thatcher war da. Ich fragte ihn, wo mein Sohn sei.« Einen Moment lang schwieg ich. »Ich durfte ihn kein einziges Mal wenigstens in den Arm nehmen. Später erzählte mir Thatcher, Susie wäre plötzlich damit herausgerückt. Zuerst sagte er bloß, so was käme eben vor. Sie hätte darauf bestanden, behauptete er nachher. Sie wollten mich ihn nicht einmal sehen lassen, haben es mir aber endlich doch erlaubt. Er war rundum eingewickelt. Er hatte schwarzes Haar, wie Avi.«
    »Hat er erklärt, warum …?«
    Ich schüttelte den Kopf. »Vielleicht einfach bloß so. Ich habe keine Ahnung.«
    Ich begann zu weinen, und nachdem ich erst einmal die Hemmung überwunden hatte, konnte ich nicht mehr aufhören; Lester hielt mich in den Armen, und ich schluchzte ohne Atempause nahezu die ganze Nacht hindurch. Kaum hatte ich meinen Erinnerungen freien Lauf gewährt, sperrte ich sie aus; doch ihr Odeur sollte ewig haften bleiben, wo sie festgesetzt gesteckt hatten, sollten sie als Spuren unauslöschliche Narben zurücklassen.
    »Wie bin ich nur dazu fähig gewesen?« fragte ich zum Schluß. »Ich bin bei ihnen geblieben. Bei ihm. Wie habe ich so was bloß über mich gebracht?«
    »Wenn du's nicht sagen kannst«, meinte Lester, »kann's keiner.«
    Für lange Minuten lagen wir nach dieser Antwort auf dem Bett, ohne zu sprechen, und beobachteten, wie die Morgendämmerung anbrach, die Schleier von der Düsternis des Neo-Tags hob.
    »Joanna?«
    »Was?« fragte ich, hörte kaum die eigene Stimme.
    »Auch wenn Menschen 's Richtige zu tun versuchen, führt's oft zum Falschen«, sagte Lester. »Das liegt in der Natur der Sache. Ich hab mich die längste Zeit drüber gewundert, wieso Sie nicht einfach alles beenden und von vorn anfangen. Diese Welt kam mir immer so aussichtslos vor, daß ich dachte, wir verdienen keine zweite Chance. Aber nach 'ner Weile wurd mir klar, wie anders sich alles aus Ihrer Warte darbieten muß, und wie ich drüber nachdachte, bin ich auf die Perspektive gestoßen, die du manchmal haben müßtest. Sie zeichnen sich durch Größe aus, aber eben durch deren Gewaltigkeit ist alles so provinziell. Wer war Leonardo im Vergleich zu 'm Baum, oder Tolstoi verglichen mit den Gezeiten? Was ist Rom im Vergleich zu 'm Stern? Zuletzt hab ich kapiert, wir müssen trotzdem von allem am wertvollsten sein, wenn wir gegen 'ne derartige Vollkommenheit so gut abschneiden. Weshalb sonst sollten Sie sich so ausgiebig mit uns abgeben? Aber inzwischen wissen Sie, daß der Zeitpunkt fast da ist, an dem Sie bei uns auf direktere Weise eingreifen müssen, obwohl Ihnen klar ist, daß damit neue Gefahren verbunden sind. Sie werfen die Würfel des Universums.«
    »Was muß man in der Messiasrolle leisten?« fragte ich.
    »Mit Ihrem Verstand denken und durch unsre Augen sehen. Dann hat jeder Beteiligte 'n Durchblick.«
    »Könnte es nicht ein anderes Verfahren gegeben haben?«
    »Wieso ist der Himmel blau statt grün?« hielt Lester mir entgegen. »Ich weiß 's nicht, Joanna. Ich glaub nein. Manchmal weiß man, daß man nichts weiß, oder versteht, daß man nichts versteht …«
    »Mittlerweile weiß ich zuviel, das ich noch nicht verstehe«, sagte ich. »Es gibt nur diesen einen und keinen anderen Weg?«
    »Ich muß mich an die Wahrheit halten«, antwortete Lester. »Mir wär's auch anders lieber gewesen.«
    »Ich liebe dich, Lester«, sagte ich, ohne eine Reaktion zu erwarten; ich wünschte mir keine mehr, erhoffte mir nicht einmal noch eine; er nickte. »Warum muß alles so unabwendbar sein?«
    »Kain und Abel«, zählte er auf, »Jesus und Judas, Kennedy und Oswald, Nazis und Juden. Gott und Göttin. Leuchtete das Licht ohne die Dunkelheit nur halb so hell?«

Z EH N
    Hat er sich heute früh noch dazu geäußert?« fragte ich Lester, während wir durch die Bronx fuhren, das außer Gebrauch gestellte Stadion passierten, die von der Armee bewachten Verwaltungs- und Gerichtsmeile durchquerten. Auf der linken Seite hatte man, wo die Fassade eines Gebäudes sich unter der Last der Jahre über den Bürgersteig herabneigte, wie um sich zur Ruhe zu legen, die Straße gesperrt. Wir lehnten im Fond des Wagens; Avi saß vorn, besah sich alles, an dem wir vorübersausten, als hätte die Welt ihn bis zur Verblödung abgestumpft. »Ich habe

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