Ambient 02 - Heidern
seiner Großmutter. An der rechten Wand des Wohnzimmers stand ein Sofa ohne Armlehnen, die bumerangförmigen Beine gewährten der Sitzfläche eine Bodenfreiheit von knapp dreißig Zentimetern; den Fächern eines damals modernen, dänischen Wohnzimmerschranks fehlten anscheinend die gebleichten Holzgriffe, wenigstens sah man keine; eine fast zimmerhohe Stehlampe schien so aufgestellt zu sein, als müßte sie die Decke stützen; was auf den ersten Blick wie die übergroße Palette eines Kunstmalers wirkte, verriet durch Stummelbeine seine Funktion als Couchtisch. Die Wanduhr ähnelte einer gegen den Putz geworfenen, zerplatzten Melone. Schwarze Bücherregale aus Aluminium enthielten viele Dutzend alter Taschenbücher und Paperbacks; auf den oberen Brettern standen Fotografien in Messingrahmen.
»Über Geschmack läßt sich bekanntlich nicht streiten«, äußerte Avi. Eine Staubschicht bedeckte alles so gleichmäßig, als wäre sie in mehreren Lagen sorgfältig verteilt worden, um als Schutz zu dienen. Ich durchquerte das Zimmer zu einem der Regale – unterwegs mußte ich husten, weil ich mit der Luft noch nicht abgelagerten Staub einatmete –, zog mehrere Bücher heraus. Stolz und Vorurteil zeigte auf dem Umschlag eine vollbusige Dame der Regence-Epoche beim Schwingen der Peitsche; ich zögerte, mir auszumalen, was der zuständige Grafiker sich bei dieser Buchgestaltung wohl gedacht haben mochte. Sobald ich UFOs – es gibt sie wirklich aufklappte, löste die Cellophanhülle des Einbands sich zwischen meinen Fingern in Flöckchen auf, und die Blätter zerbröckelten zu Bröseln braunen Schnees.
»Wer ist auf den Bildern?« fragte Avi, kam herüber, stob mit jedem Schritt Staubwirbel empor. Im Handumdrehen husteten wir alle.
»Muß seine Familie sein. Ihre Familie. Da ist er drauf …«
»Der Bub?«
»Schau dir die Ohren an. Das ist er.«
Andere Fotos Jensens gab es nicht; auf diesem Bild hockte er auf dem Schoß einer älteren Frau; sie saß auf dem Sofa des Wohnzimmers. Er sah noch zu jung für die Hauptschule aus. Die Frau trug ein schlichtes, geblümtes Damenkleid; einen Arm hatte sie um den Jungen gelegt, um zu verhindern, daß er abrutschte. Zuerst dachte ich, sie hätte sich vor der Aufnahme zu waschen vergessen. »Wird wohl seine Großmutter sein«, sagte Avi.
»Was hat sie da auf dem Arm?« Obwohl ich die Fotografie genau betrachtete, mir die Personen lebendig vorzustellen versuchte, mißlang es mir, Schmutz von Schatten zu unterscheiden.
»Zahlen«, sagte Avi. Indem ich nochmals hinsah, gewahrte ich sie.
»So etwas ist doch nicht überall gemacht worden, oder?« fragte ich. »Vielleicht hat sie sogar deinen Vater gekannt …«
»Nein.«
Die restlichen, älteren Fotos hatte man in einer völlig anderen Welt aufgenommen, sie hielten Sekunden längst dahingegangener Jahre fest. Ich war keine Fotografin, merkte jedoch sofort, daß die gelbbraunen Farbtöne sich durch Vergilben erklärten, man die Bilder nicht etwa nachträglich coloriert hatte. Auf dem größten Foto standen ein Mann mit Schnauzbart, Melone und Blume im Knopfloch sowie eine Frau mit Glockenhut und langem Mantel beisammen; ihr Taillenumfang legte für mein Empfinden die Mutmaßung nahe, daß sie mehrere Kinder geboren haben mußte. Man hatte die beiden mitten auf einem großen Platz fotografiert, gepflastert mit lediglich wie die Brust eines jungen Mädchens großen Steinen.
Hinter den Köpfen des Paars stachen verzierte Spitztürme gen Himmel, ragten Dächer mit acht Giebeln und filigraner Stein in die Höhe, sah man eine in eine Fassade gehauene Engelsstatue.
»Ich glaube«, sagte ich, »das ist Prag.«
»Sie werden sie irgendwo versteckt haben«, meinte Avi.
»Die Fotos?« fragte ich, während ich mir den Rest anschaute; insgesamt zählte ich über zwanzig Bilder. Jedes zeigte andere Personen. Allem Anschein nach hatte man nur die Fotografie Jensens und seiner Großmutter in Amerika aufgenommen.
»Vielleicht vergraben. Oder im Schornstein hinter Ziegeln. Auf die Weise hat mein Vater ein paar Sachen gerettet.«
»Und später hat man sie geholt?«
»Wenn man das noch konnte.« Avi seufzte und wandte sich ab. »Ich beeile mich«, fügte er hinzu. »Man kommt sich ja wie ein Dieb vor.«
Er stieg die zwei Stufen hinauf und verschwand hinter der Schlafzimmertür. Lester setzte sich aufs Sofa, nur vorn auf die Kante; ich nahm neben ihm Platz. Die gelblich-bräunliche Helligkeit, die durch die Vorhänge einsickerte, verlieh dem
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