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Ambient 02 - Heidern

Ambient 02 - Heidern

Titel: Ambient 02 - Heidern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Womack
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verschmiert, aus dem Schlafzimmer zurück. In einer Hand hielt er, so gefaltet, daß die Schrift verdeckt blieb, mehrere Blätter Papier. Als er uns anschaute, wirkte er – zum erstenmal, seit wir Lester kannten – sonderbar ruhig, ungefähr so, als hätte ihn nachts irgendein Umriß im Zimmer zunächst geängstigt, er darum, weil er aus irgendeinem Grund nicht seine Mutter zu rufen vermochte, seine Willenskraft bis zu dem Grad gestärkt, daß er nach Gewöhnung seiner Augen an die Dunkelheit nochmals näher hingeschaut und geklärt hatte, bei dem Schemen handelte es sich um nichts, das eine Bedrohung bedeutete, hätte er dann, beim Aufstehen, zu guter Letzt erkannt, das durchlebte Entsetzen hatte auf nichts als eigener falscher Wahrnehmung beruht, einer Irreführung des Gemüts durch das Auge.
    »Worüber habt ihr denn gesprochen?« erkundigte er sich.
    »Über Ihren Vater«, sagte Lester. Eine Sekunde lang ähnelte Avi jemandem, der nach dem Aufwachen entdeckte, daß manchmal eben doch des Nachts irgend etwas im Dunkel des Zimmers lauerte. Kaum hatte er die Gefaßtheit zurückerrungen, benahm er sich wieder, als hätte man ihm nur die Uhrzeit genannt.
    »Über das, was ihm zugestoßen ist, meinen Sie?« fragte Avi. »Er hat's überlebt.«
    »Wo ist er gewesen?«
    »Zuerst ist er nach Auschwitz gebracht worden«, antwortete Avi. »Später hat man ihn nach Maidanek verlegt.«
    »Und danach?«
    Für einen Moment schwieg Avi, starrte lediglich die Papiere in seiner Hand an. »Es hat keinen Sinn, darüber zu reden.«
    »Es hatte einen Sinn«, erwiderte Lester, »als 's geschah.«
    »Die Alliierten rückten an«, sagte Avi, ohne daß sein Gesicht irgendeinen Ausdruck angenommen hätte, seine Stimmung klang völlig tonlos, während er Lester die Geschichte erzählte; einmal hatte er sie mir mit den gleichen Worten und in der gleichen Tonlosigkeit erzählt; ich konnte mir nur denken, daß er sie so wiedergab, wie er sie von seinem Vater gehört hatte. »Die Deutschen verlegten tausend Häftlinge von Maidanek ins Innere Deutschlands. Alle Häftlinge waren Männer, und mein Vater ist auch dabei gewesen. An einem wolkenlosen Tag erreichten sie eine kleine Ortschaft. Die Soldaten hatten Befehl, die Häftlinge zu liquidieren. Sie schlossen sie in eine große, aus Ziegeln gebaute Scheune ein und zündeten sie an. Die Häftlinge schrien. Mein Vater sagte, sie hätten so laut geschrien, daß schließlich sogar Gott ihr Flehen hörte. Es regnete. Das Feuer erlosch. Die Mehrzahl war aber schon tot. Mein Vater und ein paar andere haben überlebt.«
    Er hatte nichts hinzuzufügen, wenigstens im Moment nicht; wir saßen im Wohnzimmer und sahen, während der Nachmittag verstrich, das Licht immer trüber werden. Nach einer kurzen Weile ergriff Avi erneut das Wort, wandte sich, als wäre ich überhaupt nicht zugegen, an Lester. »Ich weiß, daß alles einen Sinn haben muß«, sagte er. »Aber was ist darin der Sinn?«
    »Stünden Sie jetzt hier und hätten mir diese Geschichte erzählt«, hielt Lester ihm entgegen, »hätt sie keinerlei Sinn?«
    »Was ist der Sinn?« wiederholte Avi. »Was ist dabei Gottes Absicht gewesen? Können Sie mir das verraten?«
    »Darauf könnte nur Gott selbst antworten«, sagte Lester. »Göttin münzt soviel Schlechtes in Gutes um, wie Sie kann. Also haben für ein Minjan Ihre Tränen genug gerettet.«
    Avi schloß die Lider; für den Moment vergaß er anscheinend, was er war, besann sich darauf, was er früher gewesen war; Lester durchquerte das Zimmer und stellte sich zu ihm.
    »Tun Sie, was Sie müssen«, sagte er zu Avi. »Es ist Ihre Aufgabe, Avi. Das wissen Sie doch.«
    Avi schlug die Augen auf und nickte; begann die Hand zur Faust zu ballen, als wollte er die Papiere zerknüllen, die er in den Fingern hielt. Als er Lesters Mißbilligung sah, unterließ er es, faltete sie statt dessen noch einmal und schob sie ins Jackett.
    »Was ist das, Lester?« fragte ich. Ich hatte keine Ahnung, warum ich die Frage stellte; ich wußte Bescheid.
    »Mr. Dryden muß diese Unterlagen sehen, Joanna«, sagte Avi, tatschte auf die Jackentasche. »Es muß sein, so sehr ich's bedaure. Lester hat recht.«
    Ich folgte den beiden aus der Wohnung, durch den Flur und hinaus auf die Straße. Avi hatte einen Arm um Lester gelegt, während er ihn zum Auto führte, auf die Rückbank steigen ließ; erstmals in all den Jahren, die ich schon für die Dryco arbeitete, setzte ich mich nach vorn, wo sonst stets die Leibwächter saßen,

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