Ambler-Warnung
Nordfrankreichs«, sagte Ambler in seinem besten Reiseführer-Tonfall. »Dieser Bahnhof wurde als Tor zum Norden errichtet: Nordfrankreich, Belgien, Holland und Skandinavien.«
»Fantastisch«, hauchte Laurel. Aus ihrem Mund wirkte das Wort nicht abgedroschen, formelhaft oder nichtssagend. Es drückte genau das aus, was sie empfand. Durch ihre Augen wirkte auch für ihn die vertraute Umgebung wieder neu und aufregend.
Das symbolische Tor vor ihm war ein Sinnbild der menschlichen Geschichte. Es gab immer Leute, die das Tor öffnen wollten. Es gab immer Leute, die es fest verriegeln wollten. Ambler hatte für beide Seiten gearbeitet.
Eine Stunde später ließ er Laurel mit einem Reiseführer und einem großen Cappuccino in seinem Lieblingscafé Les Deux Magots zurück. Von ihrem Platz aus konnte sie die älteste Kirche von Paris sehen. Er erklärte ihr, er müsse etwas erledigen und wäre bald wieder bei ihr.
Mit schnellen Schritten lief Ambler nach Westen ins siebte Arrondissement. Er machte ein paar Umwege und hielt in Schaufensterscheiben nach eventuellen Verfolgern Ausschau. Außerdem scannte er die Gesichter aller Menschen, die ihm begegneten. Kein Zeichen dafür, dass er überwacht wurde. Erst wenn er mit Fentons Pariser Leuten in Kontakt trat, wusste jemand, dass er und Laurel in Paris waren. Zumindest hoffte er das. Schließlich klingelte er an der Tür eines eleganten Stadthauses aus dem neunzehnten Jahrhundert in der Rue St. Dominique.
Das Logo der Strategic Services Group war in eine rechteckige Messingplakette eingraviert, die an der Tür hing. Als Ambler den Fremden erblickte, der sich darin spiegelte, stieg sein Adrenalinspiegel kurz an. Dann realisierte er, dass er sein eigenes Spiegelbild sah.
Er riss sich zusammen und sah sich die Tür genauer an. Am Türrahmen war eine quadratische Glasscheibe angebracht, die so blind und dunkel wirkte wie ein ausgeschalteter Fernsehschirm. Ambler erkannte, dass es sich um den Monitor einer brandneuen audiovisuellen Überwachungsanlage handelte. In die Silikatoberfläche waren mehrere Hundert Mikrolinsen eingebettet, die in einem Bereich von beinahe 180 Grad auch den kleinsten Lichteinfall registrierten. Wie die Ommatidien eines Insekts bildeten diese Linsen eine Art Facettenauge. Die Daten der mehreren Hundert Einzelrezeptoren wurden von einem Computer zu einem einzigen, beweglichen Bild zusammengesetzt, das aus den unterschiedlichsten Winkeln betrachtet werden konnte.
»Est-ceque vous avez un rendezvous?«, erklang eine Männerstimme aus einem Lautsprecher.
»Ich bin Robert Mulvaney«, sagte Ambler. Es tat ihm irgendwie gut, einen Namen zu benutzen, von dem er wusste, dass er falsch war. Besser als einen Namen zu haben, von dem er nicht wusste, ob er echt war.
Nach ein paar Sekunden, in denen ein Computer zweifellos sein Bild mit dem Digitalfoto verglich, das Fenton wahrscheinlich in die Zentrale geschickt hatte, ertönte ein Summer, und Ambler betrat ein nichtssagendes Firmenfoyer. Ein großes Plastikschild auf Augenhöhe zeigte das Firmenlogo, eine größere Ausgabe der Gravur auf dem Messingschild. Ein glatzköpfiges Faktotum schrieb pflichtbewusst alle Ausrüstungsgegenstände und Dokumente auf, die Ambler brauchen
würde – darunter auch ein im vorigen Jahr auf den Namen Mary Mulvaney ausgestellter Reisepass mit den entsprechenden Stempeln. Die Fotoseite sollte leer bleiben, die Sicherheitsfolie lose. Ambler würde das Foto selbst besorgen und an der richtigen Stelle einlaminieren. Eine halbe Stunde später bekam er einen hartschaligen Aktenkoffer. Ambler machte sich nicht die Mühe, den Inhalt zu inspizieren. Er zweifelte nicht daran, dass Fentons Organisation effektiv arbeitete. Während seine »Bestellung« bearbeitet wurde, hatte er das neueste Dossier über Benoit Deschesnes erhalten und studiert. Auf dem Rückweg zum Deux Magots ging er den Inhalt im Geist noch einmal durch.
Drei Fotos mit hoher Auflösung zeigten einen Mann Mitte fünfzig mit scharf geschnittenem Gesicht und langem, grau meliertem Haar. Auf einem Bild trug er einen Kneifer, mit dem er ein bisschen prätentiös wirkte. Ein kurzer Lebenslauf vervollständigte das Dossier.
Deschesnes, der in einer Wohnung in der Rue Rambuteau wohnte, war ganz offensichtlich ein brillanter Mann. Er hatte Nuklearphysik an der École Polytechnique studiert, der elitärsten naturwissenschaftlichen Universität dieses elitegläubigen Landes, und dann in einer Abteilung für Nuklearforschung von
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