Ambler-Warnung
Aufrichtigkeit dieses Mannes zweifeln. Das hätte bedeutet, dass er seiner eigenen Wahrnehmung nicht mehr traute.
Deschesnes war das Opfer einer Verschwörung.
Aber wer wollte ihn aus dem Weg räumen? Fenton hatte nicht den leisesten Zweifel an der Verlässlichkeit der »Quelle« gezeigt, die ihm den Auftrag erteilt hatte. Wie weit nach oben – oder nach unten – reichte diese Verschwörung? Wem nutzte Deschesnes’ Tod?
Ambler musste die Antworten auf diese Fragen unbedingt finden. Aber der Franzose würde ihm dabei wohl keine große Hilfe sein.
Ambler schob ein Rollo zur Seite und sah durch das Fenster, dass eine kleine, schwarzhaarige Frau die Straße entlang in Richtung Eingang eilte. Das war bestimmt Joelle.
»Ist in dem Apartment über uns jemand zu Hause?«, fragte Ambler.
»Alle Nachbarn arbeiten«, antwortete Deschesnes. »Vor sechs Uhr ist nie jemand zu Hause. Warum interessiert Sie das? Ich habe den Schlüssel nicht. Und Joelle ...«
»Leider ist unser Gespräch noch nicht beendet«, unterbrach Ambler ihn. »Ich würde Joelle gern aus der Angelegenheit heraushalten. Und Sie doch auch?«
Deschesnes nickte mit aschfahlem Gesicht.
Mit gezückter Pistole folgte Ambler dem Franzosen die Treppe hinauf in den vierten Stock. Die Tür war zwar verschlossen, aber das war kein wirkliches Hindernis. Ambler hatte gesehen, wie schwach die Messingtürschlösser im Haus waren, nur lose im morschen Holz verankert. Mit einer plötzlichen Bewegung rammte er seine Hüfte gegen die Tür. Sie gab nach, das Holz zersplitterte, der Weg war frei. Sie betraten die Wohnung. Joëlle war wahrscheinlich gerade am untersten Treppenabsatz angelangt. Sie würde sich zwar darüber wundern, dass Deschesnes sie versetzt hatte, aber dafür gab es viele mögliche Erklärungen. Ambler würde es Deschesnes überlassen, sich eine auszusuchen.
Die Räume im vierten Stock wirkten geradezu unbewohnt. Auf dem Boden lag ein ovaler Juteteppich, und die wenigen, schäbigen Möbelstücke waren nicht mal für den Flohmarkt gut genug. Aber die Wohnung würde genügen. Ambler bestand darauf, dass sie sich flüsternd unterhielten.
»Nehmen wir an«, sagte er, »dass ich tatsächlich mit falschen Informationen versorgt worden bin. Dass Sie Feinde haben, die Ihnen nach dem Leben trachten. Dann stellt sich die Frage: Warum?«
»Mir stellt sich nur die Frage, warum Sie nicht aus meinem Leben verschwinden«, erwiderte Deschesnes mit kalter Wut. Er hatte begriffen, dass sein Leben nicht mehr unmittelbar in Gefahr schwebte. »Ich frage mich, warum Sie immer noch mit einer Pistole vor mir herumfuchteln. Sie wollen wissen, wer meine Feinde sind? Schauen Sie in den Spiegel, Sie amerikanischer Cowboy! Sie sind mein Feind!«
»Ich werde die Pistole wegstecken«, sagte Ambler. Während er das tat, setzte er hinzu: »Aber für Sie ist die Gefahr damit nicht vorüber.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Da, wo ich herkomme, warten noch viele andere.«
Deschesnes erbleichte. »Und woher kommen Sie?«
»Das spielt keine Rolle. Wichtig ist, dass mächtige Regierungsbeamte Sie für eine Gefahr für die internationale Sicherheit halten. Und ich frage Sie, warum das der Fall sein könnte.«
Deschesnes schüttelte den Kopf. »Ich kann mir keinen Grund denken«, sagte er schließlich. »Als Generaldirektor der IAEA symbolisiere ich eine internationale Resolution zu diesem Problem – lassen wir mal die Tatsache beiseite, dass diese Resolution zu oft leider rein symbolisch bleibt. Meine Haltung zur nuklearen Bedrohung entspringt dem gesunden Menschenverstand und wird von Millionen von Menschen und mehreren tausend Physikern geteilt.«
»Aber sicherlich ist nicht Ihre ganze Arbeit für die Öffentlichkeit bestimmt. Einiges muss doch vertraulich gehalten werden.«
»Im Regelfall veröffentlichen wir keine vorläufigen Ergebnisse. Aber die meisten Berichte sind dafür bestimmt, an die Öffentlichkeit zu gelangen, wenn sie abgeschlossen sind.« Er überlegte. »Der wichtigste unveröffentlichte Bericht, an dem ich gerade arbeite, beschäftigt sich mit Chinas Rolle in der Proliferation.«
»Und was haben Sie herausgefunden?«
»Nichts.«
»Was soll das heißen?« Ambler ging zum Fenster und beobachtete, wie die zierliche Brünette mit zögernden Schritten das Haus verließ und auf den Gehweg trat. Sie würde Fragen haben. Aber die Antworten mussten warten.
»Entgegen aller Behauptungen der amerikanischen Regierung, der französischen Regierung und der NATO
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