Ambler-Warnung
seinem Hemdkragen. Er rang nach Atem, weil der zerquetschte Knorpel die Luftröhre teilweise blockierte. Ambler riss die Autotür auf und zerrte
den Mann aus dem Wagen. Der Fahrer torkelte einige Schritte weit davon, bevor er zusammenbrach.
Als Ambler sich ans Steuer setzte, mit quietschenden Reifen anfuhr und die Straße entlang davonraste, konnte er die verwirrten Rufe der Männer des zweiten Teams hören. Aber sie konnten nicht mehr rechtzeitig eingreifen.
Ambler beneidete den Teamführer nicht, der nun würde melden müssen, die Zielperson sei nicht nur vor ihrer Nase entkommen, sondern obendrein mit dem Fahrzeug seines Teams davongefahren. Trotzdem hatte seine Reaktion nichts mit Berechnung oder Vorausplanung zu tun gehabt. Als er jetzt darüber nachdachte, wurde ihm klar, dass er nur auf den Gesichtsausdruck des ersten Mannes reagiert hatte: suchend, wachsam und ... unsicher. Ein Jäger, der nicht genau wusste, ob er seine Beute im Visier hatte. Das Abholteam war so rasch entsandt worden, dass die Männer keine Fotos des Gesuchten erhalten hatten. Man hatte damit gerechnet, Ambler werde tun, was Gejagte in solchen Fällen fast unweigerlich taten: sich durch einen Fluchtversuch verraten. Aber wie sollte man die Verfolgung aufnehmen, wenn der Fuchs mit den Hunden lief?
Als Fluchtfahrzeug war der Van hervorragend geeignet; binnen Minuten würde er jedoch eine Leuchtbake werden, die ihn seinen Verfolgern verriet. Nach ungefähr einer Meile auf der Connecticut Avenue bog Ambler in eine Querstraße ab und ließ den Van mit offener Fahrertür und laufendem Motor stehen. Wenn er verdammt viel Glück hatte, wurde der Wagen geklaut.
Die wünschenswerte Anonymität garantierte am ehesten ein belebtes Viertel, das Wohn- und Geschäftsviertel zugleich war – ein Viertel mit Botschaften, Museen, Kirchen, Buchhandlungen, Apartmentgebäuden. Ein Viertel mit lebhaftem
Fußgängerverkehr. Also das Gebiet um den Dupont Circle. Dieser Platz am Schnittpunkt dreier großer Avenuen war schon immer sehr belebt gewesen, und selbst an diesem trüben Wintertag herrschte auf den Gehsteigen reger Betrieb. Ambler fuhr mit einem Taxi hin, stieg an der Ecke New Hampshire Avenue und Twentieth Street aus und tauchte rasch zwischen den Passanten unter. Obwohl er ein Ziel hatte, drückte seine Miene gelangweilte Ziellosigkeit aus.
Auf seinem Weg durch die Menge versuchte er, seine Umgebung möglichst ohne Blickkontakte im Auge zu behalten. Begegnete er jedoch dem Blick eines Entgegenkommenden, machte das alte Gefühl sich jedes Mal wieder bemerkbar; vor allem in seinem übernatürlich wachsamen Zustand war es nicht anders, als lese er eine Seite aus dem Tagebuch des oder der Betreffenden. Mit einem einzigen Blick registrierte er den hastigen Schritt einer Frau Anfang sechzig mit pfirsichblondem Haar und großen vergoldeten Ohrringen. Sie trug einen seitlich hochgesteckten dunkelblauen Faltenrock unter einem offenen, karierten Mantel. Die Griffe einer Kunststofftasche von Ann Taylor umklammerte eine Hand mit Altersflecken. Sie hatte Stunden gebraucht, um sich fürs Ausgehen zurechtzumachen, und ausgehen bedeutete einkaufen. Kummervolle Einsamkeit lag auf ihren Zügen; die Regentropfen auf ihren Wangen hätten auch Tränen sein können. Sie war kinderlos, vermutete Ambler, und vielleicht trauerte sie auch deswegen. In ihrer Vergangenheit hatte es zweifellos einen Ehemann gegeben, der sie hätte ergänzen und ihr Leben hätte vollständig machen sollen, einen Ehemann, der – vor zehn Jahren? vor fünfzehn? – unruhig geworden war und sich eine Jüngere, Frischere gesucht hatte, damit sie ihn ergänzte und sein Leben vollständig machte. Jetzt sammelte sie Kundenkarten exklusiver Geschäfte und traf sich mit Leuten zum
Tee und spielte Rubber am Bridgetisch, aber vielleicht nicht so oft, wie sie gewollt hätte; Ambler spürte eine große Enttäuschung gegenüber ihren Mitmenschen. Sie ahnte vermutlich, dass ihre Traurigkeit die anderen unterschwellig abstieß; sie waren zu beschäftigt, um sich um sie zu kümmern, und ihre Einsamkeit verstärkte ihre Traurigkeit noch mehr, sodass ihre Gesellschaft noch weniger gesucht wurde. Und so verlegte sie sich aufs Einkaufen, kaufte Sachen, die zu jugendlich für sie waren, und war stets auf der Suche nach Schnäppchen, die selten teurer aussahen, als sie gewesen waren. Traf jede einzelne seiner Annahmen zu? Darauf kam es nicht an: Er wusste, dass sein Gesamteindruck zutreffend war.
Dann wurde Ambler
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