Ambler-Warnung
vorhatte. »Stehen bleiben«, brüllte er.
Aber der Mann wich mit erhobenen Händen immer weiter zurück. Wenn eine Operation schiefging, zog man sich zurück. Das war die Grundregel, auf der alle anderen Regeln aufbauten.
Ambler sah untätig zu, wie der Mann sich abrupt umdrehte und aus der Wohnung rannte, auf die Straße hechtete und verschwand. Zweifellos, um den Rest seiner Einsatztruppe zu suchen. Auch Ambler und Caston mussten schleunigst verschwinden und sich auf ihre Art neu gruppieren. Den Schützen zu töten, wäre sinnlos gewesen.
Zu viele Agenten warteten darauf, seinen Platz einzunehmen.
Peking
Chao Tang war Frühaufsteher. Und wie viele mächtige Frühaufsteher zwang er auch seine Untergebenen dazu, sich seinem Tagesrhythmus anzupassen. Das ging ganz einfach. Er hielt alle Besprechungen in der Morgendämmerung ab.
Seine Assistenten im MSS hatten sich an diese Gepflogenheit gewöhnt. Nach und nach hatten sie gelernt, auf den spätabendlichen Reiswein und das anstrengende Nachtleben zu verzichten, das sich hochrangige Mitglieder der Regierung leisten konnten. Die schrecklichen Kopfschmerzen um sechs Uhr morgens waren den Spaß einfach nicht
wert. Und nach und nach wichen die müden Blicke einem Ausdruck ruhiger Aufmerksamkeit, und die frühmorgendlichen Besprechungen verloren ein wenig von ihrem Schrecken.
Aber die heutige Besprechung – ein Lagebericht über erzielte und noch erhoffte Ergebnisse – kümmerte Chao gerade überhaupt nicht. Er brütete im abgeschirmten Sende- und Empfangsraum über einem nur für seine Augen bestimmten Dossier, das heute Nacht angekommen war. Was darin stand, war äußerst beunruhigend. Wenn Joe Lis Nachricht korrekt war, dann war die Situation noch auswegloser, als er gefürchtet hatte. Denn Genosse Lis Beschreibung der Ereignisse im Jardin du Luxembourg entwertete alle bisherigen Operationsparameter. Er musste neue finden, und zwar schnell. Das Warum belastete Chao Tang schwer.
War es möglich, dass Joe Li sich geirrt hatte? Das war unwahrscheinlich. Der Bericht musste ernst genommen werden. Viele Feinde umgaben den Präsidenten, aber zur Stunde war die Zeit sein gefährlichster Gegner. Chao durfte nicht länger darauf warten, dass Liu Ang endlich die Gefahr erkannte, in der er schwebte.
Er musste handeln, und zwar sofort und auf eigene Verantwortung. Was er vorhatte, würden viele als Hochverrat bezeichnen, als unverantwortliche und unverzeihliche Überschreitung seiner Kompetenzen. Aber Liu Angs Starrköpfigkeit ließ Chao keine andere Wahl mehr.
Genosse Chao atmete tief durch. Die Nachricht musste schnell und geheim ihr Ziel erreichen. Und er musste sicherstellen, dass der Empfänger die Dringlichkeit der Maßnahme unverzüglich erkannte und dementsprechend handelte. Die üblichen Prozeduren konnte er dabei nicht berücksichtigen. Es stand viel zu viel auf dem Spiel.
Während er seine verschlüsselten Anweisungen sendete, versicherte er sich selbst, dass er nur die Maßnahmen ergriffen hatte, welche die verzweifelte Situation erforderte. Falls er sich jedoch täuschte, hatte er gerade den größten Fehler seines Lebens begangen. Ängste und Bedenken wirbelten ihm durch den Kopf.
Und dazu noch der Wortlaut von Joe Lis Bericht. Wer wusste noch davon? Shen Wang, der junge Mann, der ihm die Nachricht überbracht hatte, war so hellwach und eifrig gewesen wie an jedem anderen Morgen auch. Zuerst hatte Chao ihm misstraut, denn er war quasi eine »Leihgabe« der Volksbefreiungsarmee. Aber die Bezeichnung war irreführend. Um die Entwicklung einer gemeinsamen Regierungskultur zu fördern – und gleichzeitig jede Eigenständigkeit im Keim zu ersticken –, war die VBA dazu übergegangen, junge Offiziere als »Sekundanten« in die zivilen Zweige der Regierung zu schicken. Der Haken war, dass man einen solchen Sekundanten nicht abweisen durfte, jedenfalls nicht, ohne für schwere Verstimmung zu sorgen. Also absolvierte ein junges Faktotum der VBA ein einjähriges Praktikum im Zentralbüro des MSS. Das Ministerium für Staatssicherheit schickte wiederum einen Mitarbeiter zur VBA, aber es galt als gesichert, dass die VBA von diesem Deal am stärksten profitierte.
Natürlich hegte man im MSS den Verdacht, dass der VBA-Praktikant alles, was er erfuhr, sofort seinen VBA-Vorgesetzten melden würde. Shen Wang galt als Schützling von General Lam, einem starrköpfigen Mann, den Chao nicht besonders mochte. Aber trotz aller anfänglichen Vorbehalte
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