Ambler-Warnung
arkadische Schäfer. Bei ihren Landschaftsbildern legte sie besonderen Wert auf die Größe der Leinwand, als habe sie die abgebildete Landschaft und nicht das Bild gekauft.
Als Jacqueline, die ihren Ehemann um ein Jahrzehnt überlebte, ihr Herrenhaus einer privaten Stiftung als Museum vermachte, wollte sie wahrscheinlich sicherstellen, dass ihre Bildersammlung auch von den nachfolgenden Generationen gebührend bewundert werden konnte. Wenn sich allerdings mal ein Kunsthistoriker in das Museum verirrte, löste Jacquelines Sammlung leider nur halblaute Schmähungen oder – noch schlimmer – überzogene Begeisterung für diese mythologischen Schinken aus.
Ambler mochte das Museum, allerdings nicht wegen seiner Bilder. Weil es so unbeliebt war, ließ sich dort problemlos ein privates Gespräch führen, und durch die Kombination von vielen großen Fenstern und einer stillen Straße ließen sich etwaige Verfolger oder Wachposten leicht entdecken. Außerdem hielt sich, da die Armandier-Stiftung mit einem begrenzten Budget arbeiten musste, immer nur ein einziger Museumswärter im Haus auf, der sich selten über den zweiten Stock hinaus verirrte.
Ambler stieg die Treppe in den vierten Stock hinauf und bog in einen Flur mit vergoldeten Stuckarbeiten ein. An der Wand hing ein langes Gemälde, auf dem Lyra spielende Göttinnen
auf einer Wiese anmutig herumlümmelten, die aussah wie ein Golfplatz. Sein Ziel war der große Raum am Ende des Flurs, wo er sich mit Caston verabredet hatte.
Der pfirsichfarbene Teppich dämpfte seine Schritte, und als er sich dem Zimmer näherte, konnte er Caston sprechen hören.
Ambler erstarrte, seine Nackenhärchen stellten sich auf. War Caston etwa nicht allein?
Lautlos ging er weiter, bis er verstehen konnte, was der Buchprüfer sagte.
»Gut«, sagte Caston. »Ach, wirklich?« Und: »Also geht es ihnen gut?« Er musste in ein Mobiltelefon sprechen. Längeres Schweigen. »Gute Nacht, Kuschelhäschen«, sagte Caston dann. »Ich liebe dich auch.« Er klappte das Handy zusammen und steckte es in die Tasche, als Ambler das Zimmer betrat.
»Schön, dass Sie auch noch kommen«, sagte Caston.
»Kuschelhäschen?«, fragte Ambler.
Errötend drehte sich der Revisor um und schaute angelegentlich aus dem Fenster. »Mein Büro hat für mich die Datenbank der Border Control gecheckt«, sagte er schließlich. »Dr. Ashton Palmer ist gestern in Roissy gelandet. Er ist also hier.«
»Können Sie sich auf die Diskretion Ihrer Mitarbeiter verlassen?«
»Wenn ich mein Büro sage, ist damit nur eine Person gemeint. Mein Assistent. Und dem vertraue ich.«
»Und was war die andere Neuigkeit?«
»Ich habe nicht gesagt, dass er noch weitere Neuigkeiten gibt.«
»Doch«, korrigierte Ambler. »Nur nicht mit Worten.«
Caston betrachte die Schinken an den Wände und zog eine Grimasse. »Es ist alles ziemlich chaotisch, und ich weiß
nicht, was ich davon halten soll. Sogenanntes >Geplapper<. Fragmentarische Informationen, die wir abgehört haben, die aber allein nicht aussagekräftig sind.«
»Und zusammengezählt?«
»Irgendetwas geht vor sich, vermutlich wird bald etwas passieren. Und es hängt mit ...«
»China zusammen«, unterbrach Ambler.
»Das ist der leichtere Teil des Rätsels.«
»Sie sprechen selbst in Rätseln.«
»Das Schwierigste an der Sache sind Sie. Unter logischen Gesichtspunkten sollten wir also bei Ihnen anfangen. Eine Variante des anthropischen Prinzips, wenn Sie so wollen. Sogenannte Observation Selection Effects.«
»Caston, bitte benutzen Sie eine Sprache, die ich verstehe.«
Caston warf ihm einen beleidigten Blick zu. »Observation Selection Effects sind nichts Besonderes. Ist Ihnen schon mal aufgefallen, wie oft Sie im Supermarkt in der längeren Kassenschlange stehen? Warum ist das wohl so? Weil in dieser Schlange die meisten Leute stehen. Stellen Sie sich vor, dass ein Mr. Smith, über den Sie rein gar nichts wissen, in einer Schlange vor der Kasse ansteht. Sie wissen nur, wie viele Leute in jeder Schlange warten. Wo befindet sich Ihrer Meinung nach Mr. Smith?«
»Das kann ich gar nicht wissen.«
»Schlussfolgerungen basieren auf Wahrscheinlichkeiten. Und am wahrscheinlichsten ist natürlich, dass Mr. Smith in der Schlange mit den meisten Kunden steht. Wenn man einen Schritt zurücktritt und sich selbst aus der Außenperspektive betrachtet, wird das ganz offensichtlich. Die langsamste Autobahnspur ist diejenige, auf der die meisten Autos fahren. Und den Gesetzen der
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